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Die Freude am Verfahren

Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“ – Ein Widerspruch

I.

Im Juni 2009 rief mich Hanjo Seissler an, der früher in der Zeitschrift natur eine Kolumne von mir angeregt und betreut hatte. Ich sollte einen Essay für die Süddeutsche Zeitung schreiben; dort solle eine Beilage erscheinen, in der eine Reihe von Publizisten, Wissenschaftlern und Künstlern darüber nachdenken sollten, was Menschen freut. Der für mich geplante Titel sei „Die große Freude“. Er erwähnte andere Autoren, bekannte Namen darunter. Wir plauderten ein wenig über die Zeit bei NATUR und Manfred Bissinger. Irgendwann erwähnte er auch, die SZ interessiere sich für das Thema, weil BMW seinen Slogan Aus Freude am fahren ändern wolle. Es werde nur noch Freude heissen.
Ich wolle es versuchen, sehen, ob mir etwas zur großen Freude einfalle und ihm das Produkt schicken, sagte ich. Es würde ein Honorar geben, sagte er. Ich lese die SZ seit vielen Jahren; einige Male habe ich auch für sie geschrieben.

II.

A. Fitzrath aus Essen, 8.7.09, per Brief an Süddeutsche Zeitung GmbH, Redaktion/Autor Herrn Dr. W. Schmidbauer, Betr.: FREUDE : )
Geschätzter Herr Schmidbauer,
in der Maske einer Verlagsbeilage kommt die BMW-Reklame daher; so wie der obszöne X6 als gute Tat sich geben möchte, dank Active Hybrid. Mittendrin Sie. : (

Die großen Freuden des Lebens
Wolfgang Schmidbauer

Die große Freude hat es schwer. Sie trägt die Last der Floskel, der Unglaubwürdigkeit. „Es ist mir eine große Freude, unseren Festredner begrüßen zu dürfen, dessen Vortrag wir alle mit Spannung erwarten!“ Der Leiter solcher Veranstaltungen kann schlecht sagen, es sei ihm eine mittlere oder eine kleine Freude. Aber ist es wirklich eine große?

Interessant scheint die Abwesenheit mittlerer Freuden des Lebens in der Öffentlichkeit. Als ob es nur große oder kleine Freuden gäbe! Die mittlere Freude passt in einen Anlass wie den oben berichteten. Kleine Freuden laufen auf die uralte, immer wieder erneuerte Aufgabe hinaus, jede Stunde so gut zu genießen, wie es möglich ist. Pflücke jeden Augenblick wie eine Blume! Wenn das so einfach wäre, würden wir es nicht so oft hören, sondern öfter tun.

Unser Medizinsystem

Es ist schon dreissig Jahre her, aber solche Erlebnisse vergisst man nicht: Auf einem Badeausflug mit dem Fahrrad an einem schönen Junitag sauste ich Kopf voran auf den Teerbelag der Strasse. Später rekonstruierte ich, dass meine vierjährige Tochter, die vor mir auf einem Schalensitz saß, mit dem Absatz ihrer Holzsandalen in die Speichen geraten war. Sie plumpste auf mich und blieb unverletzt. Meine Oberlippe war gerissen, Platzwunden im Gesicht, gottlob nichts gebrochen, kein Zahn ausgeschlagen.

Ich fand den Chirurgen, in dessen Praxis ich gebracht wurde, eine ehrfurchtgebietende Persönlichkeit, mindestens einen Kopf größer als ich, breitschultrig, Ruhe ausstrahlend. Er injizierte ein Lokalanästhetikum, säuberte die Schürfwunden und nähte den Riss in der Oberlippe. In einer Woche sollte ich wieder kommen. Nach sieben Tagen waren die Wunden gut geheilt und ich suchte den Art wieder auf. Als ich vor ihm saß und er die Fäden zog, erkannt ich ihn kaum wieder. Er war viel kleiner, wirkte eher schüchtern und hatte Mundgeruch.

In der Psychoanalyse beschreiben wir eine solche Verwandlung des Gegenübers als Folge einer Spaltung. Manchmal bin auch ich das Opfer solcher Prozesse geworden; wenn etwa ein Fortbildungsteilnehmer enttäuscht sagte: „Jetzt bin ich aus der Schweiz angereist, um endlich den Autor der hilflosen Helfer kennen zu lernen – und was finde ich? einen gewöhnlichen Psychoanalytiker!“
Der mit solchen Spaltungen einher gehende Realitätsverlust verstärkt gegenwärtig die Probleme in unserem Gesundheitswesen. Ärzte sind der Beruf mit dem höchsten Prestige – und der, gegen den die bissigsten rassistischen Witze gemacht werden – etwa so: Was unterscheidet den Psychiater von seinem Patienten? Antwort: Der weiße Kittel und der Besitz des Hausschlüssels! Oder so: Der Internist weiß viel und kann nichts, der Chirurg kann viel und weiß nichts, der Psychiater weiß nichts und kann nichts! Oder, grundsätzlicher: Die Medizin ist jenes System von Ablenkungen, das dem Kranken erlaubt, von selbst gesund zu werden. Ebenso: Wenn wir alle Medikamente ins Meer werfen, ist das gut für die Menschen und schlecht für die Fische. Oder: Wenn Sie vor der Praxis des Kardiologen in Ohnmacht fallen, haben Sie ein Herzproblem; wenn es ein Neurologe ist, sind es die Nerven, und wenn es ein Urologe ist, ganz bestimmt die Nieren!

Manche dieser zynischen Pointen haben einen wahren Kern; andere sind pure Entwertung und damit ein Hinweis, wie stark unsere Erwartungen an die Helfer von Illusionen bestimmt sind. Die Medien schlagen gerne in solche Kerben. Das beginnt in den beliebten „Praxistests“, in denen fast jeder abgefilmte Arzt betrügerisch abrechnet, jeder Zahnarzt für viele tausend Euro überflüssige Kronen verkaufen möchte. Es endet bei dem Reporter, der nur jenen zu einer Protestveranstaltung angereisten Fachärzten, die gerade aus einem Mercedes oder Porsche steigen, das Mikrophon vor die Nase hält und ein Statement zu ihrer Verarmung fordert.

Vom Hexenschuss zum Bandscheibenvorfall oder: Der zerstückelte Schamane

Dieser Text wurde auf der Tagung „Gesund-Sein aus Bewußtsein“, 3.-5. April 2009 in der Akademie Tutzing vorgetragen. Es geht darin um die (Un)Möglichkeit, in der modernen Gesellschaft zu einer „ganzheitlichen“ Heilkunde zu finden.

Brauner Biber, ein Jäger vom Stamm der Kwakiutl-Indianer, schleppt sich zu Quesalid, dem Schamanen des Stammes. Er ist ganz plötzlich, als er sich zu einer seiner Fallen bückte, von einem Zauberdorn getroffen worden. Ein stechender Schmerz macht ihn seither fast bewegungsunfähig. Er muss von seiner Frau gestützt werden, die Weiterlesen

Unsere Kindersoldaten

Die überlastete Kränkungsverarbeitung in den Schulen ist längst bekannt; sie wird verleugnet, bis sie explodiert

Eine der Merkwürdigkeiten im Umgang der Medien mit dem jüngsten Amoklauf eines Schülers war die lang anhaltende und zickig wirkende Debatte, ob es gut oder schlecht gewesen sei, eine gefälschte Internet-Botschaft unter die Leute zu bringen. Dieses Detail, das viele Druckseiten gefüllt und Sendeminuten verschluckt hat, verrät vielleicht mehr als viele andere die ganze hilflose Augenwischerei im Umgang mit solchen Ereignissen. Es wurde gestritten, als würde eine fiktive Botschaft in einem Blog ein existenzielles Geheimnis über die Tat enthüllen, während doch das wahre Problem ist, dass wir längst genug wissen, uns aber den Konsequenzen nicht stellen wollen. Wer sich das klar macht, kann mit gespieltem Entsetzen nicht mehr viel anfangen.

Sie sind mitten unter uns, unsere Kindersoldaten. Vorzugeben, es sei jede dieser narzisstischen Explosionen unvorhersehbar und die große Ausnahme, ist so klug, wie zu behaupten, jeder wisse doch, dass Schwefel, Kohle und Salpeter für sich genommen ganz harmlos sind; also sei die Explosion eines Gemischs aus diesen Stoffen auch nicht vorauszusehen.

Ohne Schusswaffen gibt es keine Kindersoldaten. Kriegsberichterstatter fürchten nichts mehr als die Begegnung mit halben Kindern, die in den Krisengebieten Afrikas und Asiens mit Kalaschnikows auf Streife gehen. Denn Kindersoldaten erschießen einen Fremden auch schon mal aus Langeweile oder weil sie es komisch finden, wie er umfällt. Die Schusswaffen entsprechen der Kohle in dem explosiven Gemisch. Durch Schusswaffen ist es spielerisch möglich, einen Menschen abzuknallen, der stärker und gewandter ist.

Der moderne Amoklauf hängt nicht an der Schusswaffe, sondern an der Automatik, dem Mehrlader. Wer – wie das Jahrhunderte lang für alle Schützen selbstverständlich war – nach jedem Schuss laden muss, der kann nach dem ersten Schuss in eine Gruppe hinein überwältigt werden. Wenn er eine oder gar mehrere automatische Waffen hat, kann ein Sechzehnjähriger ein ganzes Dorf in Angst und Schrecken setzten – oder eine ganze Schule.

Innenansichten zum Amoklauf

Ein erster Entwurf der folgenden psychologischen Skizze entstand nach dem blutigen Amoklauf an einer deutschen Schule in Freising im Februar 2001. Sie sucht die innere Situation eines Tätertypus zu erfassen, der seit Erfurt nicht mehr aus den Schreckensszenarien unseres neuen Jahrhunderts wegzudenken ist.

Wenn es einem Menschen nicht gelingt, befriedigende Gefühlsbeziehungen herzustellen, führt das zu einem Mass von innerem Elend und ständiger Angst, das sich „normale“ Personen nicht vorstellen können. Die narzisstische Beziehungslähmung führt zu einem quälenden Neid auf alle Menschen, die in jenen „guten“, entspannten Beziehungen leben, die sich der Gestörte nicht zutraut und nicht vorstellen kann. Er steht gewissermassen draussen in Kälte und Dunkelheit, während er sieht, wie – keinen Schritt entfernt und doch unerreichbar – andere Menschen in Wärme und Licht zusammenleben, sich austauschen, einander lieben und befriedigen. Er fühlt sich unfähig, diesen Zustand zu erreichen. Viele Verhaltensweisen, die uns krankhaft und unverständlich erscheinen, sind in Wahrheit Versuche, irgendwie mit der Belastung dieses Ausgeschlossenseins zurechtzukommen, oder einen letzten Appell an die Umwelt zu richten, dass sie etwas unternimmt, um den Ausgeschlossenen hereinzuholen. Sie sind destruktiv.

Wer aber selbstgerecht über die Destruktivität eines anderen urteilt, sollte vorher nachdenken. Er sollte überlegen, ob wir nicht alle oft genug wegsehen, weil es unbequem ist, uns mit Menschen zu beschäftigen, denen es schwer fällt, Kontakt zu uns herzustellen und uns für sie einzunehmen.
Es sind Jugendliche, bei denen die Unfähigkeit, tragfähige Beziehungen einzugehen, durch eine narzisstische Verschmelzung mit Waffen kompensiert wird. Der Waffenarr ist ein harmlos wirkender junger Mann mit einem besonderen Spielzeug. Er ist ein Mann, der meint, keine Chance zu haben, seine Ansprüche an Anerkennung und soziale Geltung durch geistige Leistungen oder Charme zu erfüllen. Er ist in einer von Mediengewalt gleichzeitig stimulierten und betäubten Welt eine menschliche Bombe. Der Täter in Freising hatte mehrere Rohrbomben und zwei Faustfeuerwaffen bei sich, die er sich illegal beschafft hatte. Der Täter in Erfurt trug eine 17- schüssige, automatische Pistole und eine halbautomatische Schrotflinte, beide ordentlich mit Waffenbesitzkarten erworben. In Erfurt fand der Bruder des Todesschützen ein Depot mit über 500 Schuss Munition: Zeichen der immensen Angst des Täters, am Ende ohne die Macht über seine Explosionen dazustehen. Die Täter wirken schüchtern und kontaktgestört. Da ihre Ansprüche an Geltung und Erfolg ihre realen Möglichkeiten weit übersteigen, ziehen sie sich in eine Scheinwelt zurück. Sie verwickeln sich in Lügen, um ihre Umwelt und sich selbst darüber zu täuschen, dass sie versagen. Jedes Stückchen Entwertung steigert ihren geheimen Grössenwahn, der sich schliesslich in Gewaltphantasien niederschlägt.

Der Waffennarr – eine Innenansicht

Irgendwann hast du dich entschlossen, dich zu erschiessen. Aber du bist nicht allein schuld daran, dass es so weit gekommen ist. Andere haben dich dazu gebracht. Sie verdienen es, gekillt zu werden, so wie du dich selbst killen musst, damit endlich Ruhe ist. Sie bilden sich ein, sie hätten dir was zu sagen, sie seien stärker als du. Die Lehrer, die dich so fertig gemacht und aus der Schule geworfen haben. Die dir zeigen, wer hier der Arsch ist. Wenn solche Leute die Macht haben, wenn sie dich hinauswerfen können – was ist das Leben dann noch wert? Was hat es für einen Sinn, weiterzumachen, wenn jeder Dreckskerl, nur weil er einen Titel hat, dich hinauswerfen kann, dir alles wegnehmen, was du hast? Damit musst du Schluss machen.

Kleine Rechthabereikunde

Es gibt eine ganze Reihe von Beschäftigungen, deren Ansehen sehr viel geringer ist als ihre Beliebtheit: Pralinenessen, Seitensprünge, Komasaufen, Steuerschwindel, Blaumachen – und Rechthaben. „Reine Rechthaberei“, „Du willst immer nur rechthaben!“ „Dein sei das letzte Wort!“

Wer wie der Autor einen guten Teil seiner täglichen Arbeit mit Paaren verbringt, die ihre Liebesbeziehung als unbefriedigend und stressreich empfinden, hat auch täglich Anschauungsuntericht über Rechthaberei. Er bemerkt, dass die eigene Rechthaberei völlig unauffällig abläuft und gänzlich mit sich selbst einverstanden ist, bis sie mehr oder weniger schmerzhaft an die Rechthaberei des Partners stösst. Die eigene Rechthaberei ist eigentlich gar keine. Sie ist harmlose Belehrung über allgemein akzeptierte Wahrheiten, über längst bekannte und vom Partner früher doch auch durchaus zugestandene Banalitäten. Der Partner hat das nur vergessen oder verdrängt, wie die psychologiekundigen unter den Rechthabern sagen. Er weiss nicht mehr, was er gesagt und getan, was er verschwiegen und unterlassen hat. Es gibt Partner, die dann Tonaufnahmen vorschlagen, gar heimlich Gespräche aufzeichnen und mitbringen, um endlich Recht zu bekommen.

Als Kind bekam ich einmal ein „Geduldsspiel“ geschenkt, einen flachen Blechzylinder, gross wie eine Niveadose, oben mit Glas bedeckt, drinnen eine Zeichung mit winzigen Mulden für die in der Dose klappernden Kügelchen. Diese mussten durch vorsichtige Bewegungen genau an ihre Plätze in der Zeichnung gebracht werden und hatten die tückische Gewohnheit, den schon gewonnenen, korrekten Platz wieder zu verlassen, wenn ich zu hastig versuchte, ein noch frei herumrollendes Kügelchen unterzubringen. Zuviel Schütteln brachte alles durcheinander, zu wenig setzte nichts in Bewegung.

Die Rechthaberei erinnert ein wenig an dieses Spiel. Der Streit der Paare entspräche dann dem Schütteln, das die aufgestaute Wut des Spielers entlädt, wenn wieder einmal seine Hoffnungen gescheitert sind, einen Partner zu haben, der genau wunschgemäss funktioniert. Rechthaberei ist der Versuch, eine widerspenstige Wirklichkeit mit unserer Phantasie vom Guten, das sein soll, zusammenzufügen. Leider ist der Halt, den Sollen und Sein aneinander finden, meist sehr viel schwächer, als wir uns das wünschen.

Eine Frau hat sich ihren Mann ausgesucht, weil er so unbekümmert und zuversichtlich war, während sie sich eher als depressiv und ängstlich erlebt. Nach zehn Ehejahren gibt es viel Streit. Sie haben jetzt zwei Kinder und ein Haus. Er spielt gern mit den Kindern und geht ins Schwimmbad, trampelt mit seinen Gartenschuhen durch den eben geputzten Flur und meidet den Elternabend in der Schule wie die Pest. „Immer machst du alles dreckig. Was bist du für ein Vorbild für die Kinder!

Alte Hosen und leere Marmeladengläser

Von Pablo Picasso wird erzählt, dass er auch kleine Rechnungen – etwa in einem Restaurant – mit Scheck bezahlte. Er rechnete damit, dass die Bedienungen den Scheck nicht einlösen würden, eine signierte Grafik von Picasso! So zahlte er, ohne zu zahlen. Man hatte ihm ein Essen geschenkt!

Es gibt noch eine zweite Geschichte dazu: Als eines Tages seine junge Geliebte Francoise Gilot zwei uralte, ewige Zeiten nicht mehr getragene Hosen des Künstlers wegwarf, kam dieser spätabends strahlend nach Hause: „Stell dir vor, ich habe zwei gute Hosen in der Mülltonne gefunden, was die Leute alles wegwerfen!“. Er hatte sie nicht wieder erkannt, aber er war glücklich, weil er etwas gefunden hatte, herrenloses Gut, wie Pilze im Wald oder Muscheln am Strand. Die Geschichte verrät, dass Picasso nie die Lust des armen Kindes verloren hatte, in Mülltonnen zu spähen.

Es gibt Menschen, die das tun, andere, die es verabscheuen. Die Geste verrät etwas darüber, ob die Betroffenen schon ganz in der Konsumgesellschaft angekommen sind oder ihr noch widerstehen. Wer sich für das  interessiert, was andere wegwerfen, tut sich selbst schwer, etwas wegzuwerfen. Das hängt mit einer Hierarchie der Dinge zusammen, die man zu benötigen glaubt, und mit dem Bedürfnis nach Sicherheit. Wenn ich einmal nach einem leeren Deckelglas gesucht habe, während die Marmelade schon im Topf brodelte, bin ich auf dem Weg dazu, kein leeres Glas mehr wegzuwerfen, auch wenn die Marmeladevorräte von 2008 nur die von 2007 und 2006 auf die hinteren Plätze im Schrank drücken. Das endet dann bei dem Schock der Erben, die beim Entrümpeln der Wohnung ihrer Großmutter mehrere Schränke voller leerer Marmeladegläser finden, alle sorgfältig gespült, man weiß ja nie!

Solche Verhaltensweisen nehmen im Krieg zu. Vor allem Kinder und Jugendliche reagieren tief und irrational auf das Erleben, dass zu wenig von etwas Wichtigem da ist. Erwachsen geworden, können sie sich in der Vorratshaltung gar nicht genug tun. Picasso ist ein Beispiel dafür; er hat die Armut genug gekostet, um sie nie zu vergessen; er erinnerte sich daran, wie wichtig eine heile Hose sein kann, wenn die einzige, die ich habe, zerreißt. Dieses Verhalten wird manchmal mit Geiz verknüpft: wer sich aus der Atlkleidersammlung ausstattet und seine Möbel vom Sperrmüll holt, ist zu geizig, sich das bessere Neue zu gönnen, in den Laden zu gehen und es zu kaufen.

Lässt sich Sex verhandeln?

Klappentext: Dieses Büchlein erscheint zu meiner Kolumne „Lektionen der Liebe“ im ZEIT-Magazin, in der ich seit August 2008 Fragen zu alltäglichen Beziehungsproblemen beantworte.

Muss ich mit zum Geschäftsessen? Soll ich gestehen, dass ich spioniert habe? Darf ich meinem Partner sagen, dass er sich nur mit Idioten umgibt?  Darf ich ihr Tagebuch lesen? Sollte man fragen, wie gut man im Bett ist? Muss ich eine Affäre aufdecken?

Diese Fragen und die jeweiligen Antworten können sich schnell als Fettnäpfe oder riesige Stolpersteine erweisen. Ein falsches Wort zur falschen Zeit und schon gibt es den größten Streit. Wolfgang Schmidbauer nähert sich diesen Problemen aus Sicht des Paartherapeuthen auf unterhaltsame, humorvolle aber auch sehr einsichtige Weise…
Mitarbeit: Tilmann Prüfer

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Grossvater war im Krieg

Viele deutsche Familien sind durch traumatisierte Eltern geprägt

Erschienen in: Stuttgarter Zeitung, Dezember 2008

Neulich las ich in dem Bericht einer Tageszeitung über eine Schiesserei in einer Fussgängerzone. Der Text zeichnete ein Bild von Gewalt und Blutvergießen an einem sonnigen Nachmittag. Das Rote Kreuz habe nach dem Ereignis ein Zelt aufgebaut, in dem sich die seelisch traumatisierten Passanten von geschulten Therapeuten helfen lassen konnten.

Mir schien das lächerlich, wehleidige Fußgänger und Helfer, die Selbstmitleid fördern! Sobald ich über meine spontane Reaktion nachdachte – schließlich bin ich selbst Therapeut und es steht mir nicht zu, mich über Kollegen zu erheben – kam mir in den Sinn, wie zeitgebunden unser Gefühl für seelische Traumatisierungen ist. Ich bin 1941 geboren, erinnere mich noch an Bombenangriffe, wuchs in einer Welt von Soldatengeschichten auf und habe als kleines Kind den Soldatentod meines Vaters ohne bewusste Trauer hingenommen. So war es auch mir eigentlich selbstverständlich, mich nicht der „wehleidigen“ Beschäftigung mit den Traumen des Krieges hinzugeben.

Ich kann mich an die Situation erinnern, in der es sich mir zum ersten Mal als konkretisierte, wie wichtig die traumatisierten Eltern in einer Psychohistorie der deutschen Nachkriegszeit sind. Es war in einer Selbsterfahrungsgruppe in den Neunzigern, an der Ärzte und Psychologen teilnahmen.
Ein Teilnehmer, Deckname Wilhelm, war wegen seiner abweisend wirkenden Miene in die Kritik geraten. Er hatte sich ermutigen lassen, über seine Geschichte nachzudenken und sich damit zu beschäftigen, warum es ihm so schwer fiel, unbefangen Kontakte zu knüpfen und sich seiner Erfolge in einer gutgehenden Praxis zu freuen. Es ergab sich das Bild einer Kindheit, die durch den Auftritt des spät aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Vaters in die Idylle zwischen dem 1943 geborenen Sohn und seiner Mutter geprägt war.

Am meisten beeindruckte mich eine Szene: Als der Sohn 1955 mit der Mutter vom Einkaufen zurückkam und dem Vater den soeben erworbenen Wintermantel vorführte, wurde der Kriegsheimkehrer sehr blass und riss dem entsetzten Kind den Pelzkragen von diesem Mantel. Dann steckte er ihn in den Zimmerofen und wollte nicht darüber sprechen, was ihn so verstört hatte.