Vortrag
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Vom Hexenschuss zum Bandscheibenvorfall oder: Der zerstückelte Schamane

„Tun wir ihnen den Gefallen“, sagte Karl. „Zwischen uns ändert das nichts. Du hast deinen Beruf, ich den meinen, Kinder wollen wir beide nicht!“ „Jetzt noch nicht“, sagte Sidonia. „Später einmal kann ich mir das schon vorstellen!“ „Ich nicht“, sagte Karl, „ich habe als Kind genug durchgemacht, und ich finde diese Welt nicht so beschaffen, dass ich sie einem Kind zumuten möchte!“
Es gab eine grosse Hochzeit in Caserta. Die Carisi-Sippe war vollzählig erschienen. Taktvoll sah sie darüber hinweg, dass Karl nur seine Eltern mitgebracht hatte. Sidonia trug ein bezauberndes weisses Kleid, ein Video wurde aufgenommen, viele Fotos im Schlosspark inszeniert.

Die unfreundlichen Randbemerkungen von Karls Eltern über den Müll auf den Strassen und die vulgären Manieren der neapolitanischen Verwandschaft belasteten nur Sidonia, die inzwischen genug deutsch sprach, um etwas davon mitzubekommen. Sie weinte zum ersten Mal, seit sie Karl kennengelernt hatte. Karl schob es auf die Anspannungen der Hochzeit. Er erklärte Sidonia, kein denkender Mensch auf Gottes weiter Erde könne seine Mutter und seinen Vater ernst nehmen. Die seien einfach jenseits, das habe er begriffen, das müsse sie begreifen.

Karl und Sidonia wohnten jetzt zusammen; Sidonia wollte zuerst besser deutsch lernen, sie besorgte Karl den Haushalt, lud seine Freunde ein, übte mit ihnen. Kummer machte ihr, dass Karl anscheinend nicht sah, dass sie kein Geld hatte. In Neapel hatte sie sich durch Nachtwachen soviel verdient, dass sie sich ein kleines Auto und gelegentlich einen Urlaub leisten konnte. Die Eltern waren überzeugt, dass Karl jetzt für Sidonia aufkommen müsste. Sidonia war zu stolz, ihn zu bitten – sah er denn nicht, dass sie sich nichts mehr zum Anziehen kaufte, keine Kosmetika mehr hatte, ihre Unterwäsche so oft wusch, dass sie fadenscheinig wurde? Die Essenseinkäufe erledigte er auf dem Nachhauseweg, das wenigstens war kein Problem.
Schliesslich schüttete Sidonia einer der neu gewonnenen Freundinnen aus dem Kollegenkreis von Karl ihr Herz aus. Karl fiel aus allen Wolken, als sie ihm von Sidonias stummem Leid berichtete. Warum hatte Sidonia nichts gesagt? Woher sollte er das ahnen? „Ein Mann aus Neapel hätte es gesehen“, sagte Sidonia. „Aber ich verstehe, dass ihr Deutschen anders seid. Eure Frauen sind emanzipiert, sie müssen für sich selbst sprechen, ich habe etwas gelernt.“

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