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Bücher schreiben

Zur Jugend gehört es, sich selbst zu entwerfen. Wir wissen heute, dass dieser Vorgang mit der Reife des Stirnhirns zu tun hat, die zwischen 10 und 20 Jahren stattfindet und aus dem alltagsklugen Kind den Erwachsenen macht, der über sich selbst und seinen Platz in der Welt nachdenkt. In meiner Jugend waren Bücher das einzige Mittel, die pädagogischen Grenzen zu sprengen, welche Elternhaus und Schule zu festigen suchen. Ich begann zu lesen, als das Wirtschaftswunder einsetzte. Die Menschen waren damit beschäftigt, ihre Städte wieder aufzubauen. Kaum einer schien sich Gedanken zu machen, warum die Welt der Erwachsenen in Trümmern enden musste.

Ich wollte das verstehen und war gleichzeitig fasziniert von der Möglichkeit, in Bücher einzutauchen und mich für eine Weile von der Umwelt zu verabschieden. Meine Mutter beklagte sich – selbst eine begeisterte Leserin – manchmal scherzhaft, ist würde nichts hören, wenn ich ein Buch vor Augen hätte. Ich wollte Dichter werden und selbst solche Wunderdinge herstellen. Aber ich war unsicher, ob ich davon leben könne. So studierte ich Psychologie, schrieb heimlich Gedichte begann einen ersten Roman. Durch einen Zufall – eigentlich sollte ich Archivarbeiten erledigen – kam ich als 21jähriger Werkstudent dazu, Texte für ein medizinisches Magazin schreiben. Ich machte nun Karriere als science writer, gab die Poesie auf, schloss das Studium ab und ging nach Italien, wo ich von täglich zwei Stunden Wissenschaftsjournalismus leben und meine ersten Bücher schreiben konnte.

Forschen und heilen – so hat Freud die Aufgabe des Psychoanalytikers beschrieben. Ich finde das ein gutes Motto für psychologische Sachbücher und für die Auseinandersetzung mit den Problemen der Zeit – mit der Konsumgesellschaft, der Ignoranz, was den Umgang mit Kindern und seelisch Kranken angeht, der Macht des Geldes, die auch eine Macht der Angst ist, und der nicht immer wohltätigen Macht der Helfer und Heiler.

Das Textwerk eines Autors samt dessen Bibliothek passt heute problemlos auf einen fingerlangen Stick. Aber es gibt immer noch Bücher mit Seiten zum Blättern, auf die wir eigene Gedanken kritzeln können. Sie liegen irgendwo, beim Händler, in einer Kiste des Antiquars am Flussufer, als Reisebuch im Zugabteil und warten auf einen Leser. Und weil das Buch nicht springen kann, nicht einmal kriechen, muss sich der Autor in Bewegung setzen, um Brücken zu bauen zwischen Leser und Buch.


W.S., August 2012