Viele deutsche Familien sind durch traumatisierte Eltern geprägt
Erschienen in: Stuttgarter Zeitung, Dezember 2008
Neulich las ich in dem Bericht einer Tageszeitung über eine Schiesserei in einer Fussgängerzone. Der Text zeichnete ein Bild von Gewalt und Blutvergießen an einem sonnigen Nachmittag. Das Rote Kreuz habe nach dem Ereignis ein Zelt aufgebaut, in dem sich die seelisch traumatisierten Passanten von geschulten Therapeuten helfen lassen konnten.
Mir schien das lächerlich, wehleidige Fußgänger und Helfer, die Selbstmitleid fördern! Sobald ich über meine spontane Reaktion nachdachte – schließlich bin ich selbst Therapeut und es steht mir nicht zu, mich über Kollegen zu erheben – kam mir in den Sinn, wie zeitgebunden unser Gefühl für seelische Traumatisierungen ist. Ich bin 1941 geboren, erinnere mich noch an Bombenangriffe, wuchs in einer Welt von Soldatengeschichten auf und habe als kleines Kind den Soldatentod meines Vaters ohne bewusste Trauer hingenommen. So war es auch mir eigentlich selbstverständlich, mich nicht der „wehleidigen“ Beschäftigung mit den Traumen des Krieges hinzugeben.
Ich kann mich an die Situation erinnern, in der es sich mir zum ersten Mal als konkretisierte, wie wichtig die traumatisierten Eltern in einer Psychohistorie der deutschen Nachkriegszeit sind. Es war in einer Selbsterfahrungsgruppe in den Neunzigern, an der Ärzte und Psychologen teilnahmen.
Ein Teilnehmer, Deckname Wilhelm, war wegen seiner abweisend wirkenden Miene in die Kritik geraten. Er hatte sich ermutigen lassen, über seine Geschichte nachzudenken und sich damit zu beschäftigen, warum es ihm so schwer fiel, unbefangen Kontakte zu knüpfen und sich seiner Erfolge in einer gutgehenden Praxis zu freuen. Es ergab sich das Bild einer Kindheit, die durch den Auftritt des spät aus der Kriegsgefangenschaft entlassenen Vaters in die Idylle zwischen dem 1943 geborenen Sohn und seiner Mutter geprägt war.
Am meisten beeindruckte mich eine Szene: Als der Sohn 1955 mit der Mutter vom Einkaufen zurückkam und dem Vater den soeben erworbenen Wintermantel vorführte, wurde der Kriegsheimkehrer sehr blass und riss dem entsetzten Kind den Pelzkragen von diesem Mantel. Dann steckte er ihn in den Zimmerofen und wollte nicht darüber sprechen, was ihn so verstört hatte.