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Innenansichten zum Amoklauf

Angesichts des Amoklaufs von Erfurt kann man sich einige Interventionen vorstellen, die das Ereignis vielleicht verhindert hätten:

1. Einem Kinderarzt oder einer Erzieherin im Kindergarten fällt auf, dass da ein Junge instabil gebunden ist, dass er sich nicht in andere hineinversetzen und mit ihnen nicht konstruktiv spielen kann. Sie schlagen eine Kindertherapie vor; die Eltern sind dazu bereit.

2. Den Eltern fällt auf, dass sie mit dem jüngeren Sohn einen schlechteren Kontakt haben als mit seinem Bruder. Sie kämpfen um diesen Kontakt, suchen Hilfe bei einer Beratungsstelle.

3. Einer Mitschülerin fällt auf, dass Robert vor seinem drohenden Schulversagen die Augen schliesst, dass er sich selbst und seinen Eltern etwas vormacht. Sie setzt sich mit ihm so lange auseinander, bis er das ändert.

4. Im Schützenverein wundert sich ein älterer Kamerad, dass Robert zwei Combat-Waffen gekauft hat, mit denen er im Verein gar nicht schiessen kann. Er kommt mit ihm ins Gespräch. Sie beschliessen, sich ein eigenes Übungsgelände zu suchen, tauschen sich aus, gehen zusammen in einen verlassenen Steinbruch und schiessen dort auf verschiedene Ziele. Sie entwickeln Pläne, zusammen eine Firma für Werk- und Personenschutz aufzubauen. Robert soll endlich seinen Eltern sagen, dass er das Gymnasium geschmissen hat und sich erst mal freiwillig beim Bundesgrenzschutz melden.

5. Das Gymnasium ist nicht damit zufrieden, einen Schüler auszuschliessen, weil er sich falsch verhalten hat. Es sieht seine Verpflichtung darin, mit anderen Einrichtungen zusammenzuarbeiten, um ihm eine neue Bildungsperspektive zu erschliessen. Als Robert den schriftlich angebotenen Termin für eine Schullaufbahnberatung nicht wahrnimmt, besucht ihn der zuständige Sozialpädagoge zuhause. Er erkundigt sich nach den Interessen und Fähigkeiten des jungen Mannes und gewinnt ihn für ein erlebnispädagogisches Projekt – einer Fahrt nach Norwegen auf einem umgebauten Krabbenfänger. Robert ist von der Seefahrt begeistert und beschliesst, dabeizubleiben.

Angesichts der labilen Struktur eines 19jährigen wäre oft mit ein wenig Zeit unendlich viel gewonnen. Es kann eine Wende einleiten, wenn sich die prekäre Balance zwischen narzisstischer Wut und einfühlender Realitätsorientierung um ein Geringes verschiebt. In solchen Tätern mischen sich (selbst)mörderische und lebenserhaltende Anteile. Sie sind es gewohnt, zu warten, in sich die Hoffnung immer wieder anzufachen, dass etwas geschieht, was die Todesphantasie kompensiert, die ihnen selbst bedrohlich erscheint und die ein Mensch nur verwirklicht, wenn ihm gar nichts anderes mehr einfällt. Es ist auch nicht so, dass „fast“ entschlossene Selbstmörder gleich zur Tat schreiten; sie befragen Orakel, sie sprechen mit Freunden in Andeutungen, sie hoffen darauf, dass jemand kommt und sie rettet. Ein immenses Bedürfnis nach Zuwendung ist bei diesen Tätern mit einer ebenso immensen Unfähigkeit gepaart, sich dadurch ausreichend mit Liebe zu versorgen, dass sie selbst lieben. Sie können nur behaupten, sie seien völlig cool und stünden über derlei lächerlichen Bedürfnissen.

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