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Unser Medizinsystem

Es ist schon dreissig Jahre her, aber solche Erlebnisse vergisst man nicht: Auf einem Badeausflug mit dem Fahrrad an einem schönen Junitag sauste ich Kopf voran auf den Teerbelag der Strasse. Später rekonstruierte ich, dass meine vierjährige Tochter, die vor mir auf einem Schalensitz saß, mit dem Absatz ihrer Holzsandalen in die Speichen geraten war. Sie plumpste auf mich und blieb unverletzt. Meine Oberlippe war gerissen, Platzwunden im Gesicht, gottlob nichts gebrochen, kein Zahn ausgeschlagen.

Ich fand den Chirurgen, in dessen Praxis ich gebracht wurde, eine ehrfurchtgebietende Persönlichkeit, mindestens einen Kopf größer als ich, breitschultrig, Ruhe ausstrahlend. Er injizierte ein Lokalanästhetikum, säuberte die Schürfwunden und nähte den Riss in der Oberlippe. In einer Woche sollte ich wieder kommen. Nach sieben Tagen waren die Wunden gut geheilt und ich suchte den Art wieder auf. Als ich vor ihm saß und er die Fäden zog, erkannt ich ihn kaum wieder. Er war viel kleiner, wirkte eher schüchtern und hatte Mundgeruch.

In der Psychoanalyse beschreiben wir eine solche Verwandlung des Gegenübers als Folge einer Spaltung. Manchmal bin auch ich das Opfer solcher Prozesse geworden; wenn etwa ein Fortbildungsteilnehmer enttäuscht sagte: „Jetzt bin ich aus der Schweiz angereist, um endlich den Autor der hilflosen Helfer kennen zu lernen – und was finde ich? einen gewöhnlichen Psychoanalytiker!“
Der mit solchen Spaltungen einher gehende Realitätsverlust verstärkt gegenwärtig die Probleme in unserem Gesundheitswesen. Ärzte sind der Beruf mit dem höchsten Prestige – und der, gegen den die bissigsten rassistischen Witze gemacht werden – etwa so: Was unterscheidet den Psychiater von seinem Patienten? Antwort: Der weiße Kittel und der Besitz des Hausschlüssels! Oder so: Der Internist weiß viel und kann nichts, der Chirurg kann viel und weiß nichts, der Psychiater weiß nichts und kann nichts! Oder, grundsätzlicher: Die Medizin ist jenes System von Ablenkungen, das dem Kranken erlaubt, von selbst gesund zu werden. Ebenso: Wenn wir alle Medikamente ins Meer werfen, ist das gut für die Menschen und schlecht für die Fische. Oder: Wenn Sie vor der Praxis des Kardiologen in Ohnmacht fallen, haben Sie ein Herzproblem; wenn es ein Neurologe ist, sind es die Nerven, und wenn es ein Urologe ist, ganz bestimmt die Nieren!

Manche dieser zynischen Pointen haben einen wahren Kern; andere sind pure Entwertung und damit ein Hinweis, wie stark unsere Erwartungen an die Helfer von Illusionen bestimmt sind. Die Medien schlagen gerne in solche Kerben. Das beginnt in den beliebten „Praxistests“, in denen fast jeder abgefilmte Arzt betrügerisch abrechnet, jeder Zahnarzt für viele tausend Euro überflüssige Kronen verkaufen möchte. Es endet bei dem Reporter, der nur jenen zu einer Protestveranstaltung angereisten Fachärzten, die gerade aus einem Mercedes oder Porsche steigen, das Mikrophon vor die Nase hält und ein Statement zu ihrer Verarmung fordert.

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