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Kann keine Trauer sein

Immer noch prägt das Trauma der NS-Zeit die Familien

In der „Zeitzeugen“-Serie der Süddeutschen Zeitung erschien am 24.4. 2010 der folgende Artikel in einer gekürzten Version. Hier der vollständige Text.

1945 waren die meisten Deutschen überzeugt, sie seien Hitler nur aus Angst und unter Druck gefolgt. Das kleine schlechte Gewissen, das im Hintergrund so großer Begeisterung geblieben war, das Zweifel angemeldet hatte am Sinn dieser geistigen und emotionalen Blähungen, wurde nach 1945 umgedeutet: Eigentlich war der Gegenwille da gewesen. Er hatte sich nur deshalb nicht durchgesetzt, weil die Nazis zwar wenige, aber sehr mächtig, sehr böse waren. Der große, begeisterte Gehorsam, der Jubel angesichts der nationalistischen Phrasen wurden zum Zwang; die kleinen heimlichen Bedenken zur widerständigen inneren Wahrheit, zur unsichtbaren Flagge.

Dieselbe große deutsche Mehrheit, die Hitler als Autorität anerkannt und Gefolgschaft geleistet hatte, litt nach 1945 unter einem inneren Zusammenbruch, der den äußeren überdauerte. Im Wirtschaftswunder wurde er bemäntelt und übertüncht. Die Ausrede, dass Hitler sie verraten und in heilloses Unglück geführt habe, tarnte eigene Verluste an glaubwürdigen inneren Strukturen. Die willige, ja begeisterte Preisgabe des Rechtsstaates ab 1934 wurde im Nachhinein als erzwungene Duldung eines bösen Regimes ausgelegt. Innere Emigrationen wurden fortgeschrieben; es gab bis in die 70er-Jahre einen breiten Konsens, alles ruhen zu lassen, was solchen Selbstmythisierungen widersprach.

So kam es, dass die Emigranten, die auf niederträchtigste Weise enteignet und denunziert worden waren, nach ihrer Rückkehr ein Volk von Opfern vorfanden, das sich nicht an seine begeisterte Anhängerschaft an Hitler als Träger der besten deutschen Werte erinnern konnte. Von der Begeisterung für die Propagandalügen von 1935 wollte niemand mehr etwas wissen; an die Verzweiflung über das Versagen des Führers und seiner wenigen unbelehrbaren Anhänger in der Niederlage erinnerten sich alle.

Unter Traumatisierten

Im Mai 1945 war ich vier Jahre alt geworden. Der Krieg war, das schaute ich den Erwachsenen ab, wie eine Naturgewalt über uns hereingebrochen. In meiner Familie gewann die Überzeugung, dass sich das deutsche Böse vollständig gegen das Böse der Feinde aufhob, ihren Sinn und ihre emotionale Berechtigung daraus, dass mein Vater gefallen war. Der Witwe und uns Halbwaisen konnte niemand den Opferstatus absprechen. Vielleicht erklärt das auch, weshalb ich als Kind nie Hassgefühle gegen den russischen Scharfschützen empfand, der im Januar 1944 meinen Vater getötet hatte, als dieser versuchte, den Rückzug seiner Kompanie aus der Ukraine zu organisieren.

Grooming oder Mobbing?

Wer einen psychologischen Grundkurs absolvieren möchte, kann in Vorlesungen gehen oder in den Zoo. Eindrücklicher als im Proseminar wird er am Pavianfelsen belehrt. Hier kann er studieren, wie Primatenmütter ihre Säuglinge zärtlich an sich drücken, aber ihre halberwachsenen Kinder energisch weiterschicken, wenn diese das Hotel Mama beanspruchen. Es wird ihm deutlich, dass Aggressionen nichts Destruktives sind, sondern Teil des Neugierverhaltens – ausprobieren, was geht, alle körperlichen Fähigkeiten üben. Er wird sehen, dass die erwachsenen Tiere die jungen nicht kontrollieren, aber energisch einschreiten, wenn es zu laut wird. Und während die Jungen raufen, gibt es bei den Alten nur ganz selten körperliche Auseinandersetzungen.

Das ist eine ganz kursorische Zusammenfassung, die zu unserer Titelfrage führen soll. Am Pavianfelsen können wir auch das bei weitem häufigste Sozialverhalten unserer Vorläufer in der Evolution beobachten. Denn die wichtigste Beschäftigung auf dem Felsen ist das Grooming, auch Komfortverhalten genannt, eine wohltuende Beschäftigung mit der Oberfläche eines Gegenübers. Grooming geht weit über Lausen hinaus, auf das es manchmal reduziert wurde. Es ist Frisieren, Rückenkratzen, Streicheln, paarweise oder in kleinen Gruppen, mal aktiv, mal passiv zum sichtlichen Genuss der Beteiligten.

Mobbing ist heute ein Modebegriff. Wir würden ihn nicht so oft benutzen, wenn er nicht etwas erfassen könnte, was die Menschen beschäftigt. Im Alltag meinen wir mit Mobbing eigentlich jedes kränkende Verhalten, jeden Versuch, uns zu vermitteln, dass wir an diesem Platz, so wie wir sind, nicht bleiben sollten und jemand anderer besser auf ihn passen, weniger stören würde. In dem Wort schwingt mit, dass wir die Opfer eines bösen und im Grunde ungerechtfertigten Angriffs sind.
In der Verhaltensforschung wird mit Mobbing die drohende, feindselige Reaktion von gruppenlebenden Tieren beschrieben. Krähen mobben die Eule oder die Katze, welche sich ihrer Nistkolonie nähert, indem sie krächzen und Droh-Angriffe fliegen. Hühner mobben das hinkende, das räudige Huhn, ähnlich wie die Kinder einer Schulklasse ihren Prügelknaben nach einem Merkmal wählen, das ihn von der Masse negativ unterscheidet – er ist besonders ungeschickt, ängstlich, hässlich usw. Zum Mobbing gehört oft das Gefühl, als Einzelner einer Übermacht ausgeliefert zu sein, was freilich durchaus subjektiv sein kann. Wer Angst verspürt, zählt jeden Feind doppelt.

Die Illusionen über das Gegenüber und die virtuelle Welt

Erzwungene Beziehungen greifen um sich, vom Stalking zur Zwangsverpflichtung des widerspenstigen Vaters

Es ist nicht so, das Liebe manchmal Fehler macht, sondern die Liebe selbst ist ein Fehler. Wir verlieben uns, wenn unsere Phantasie auf eine andere Person die Perfektion projiziert, die sie nicht hat. Eines Tages verschwindet das phantastische Bild, und mit ihm stirbt die Liebe.

So melancholisch hat der 1883 geborene spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinem Essay Über die Liebe die Bindung der höchsten Gefühle an die größten Illusionen kommentiert. Wer manche Verwirrungen der Gegenwart untersucht, kann ihm nur beipflichten. Der liebende Mensch ist dem Menschen das Vertrauteste – und das erschreckend Fremde zugleich. Das liegt an einem Grundsatz unserer Psyche. Es gibt in ihr keine leeren Stellen, wie es einst weiße Flecken auf den Landkarten gab. Wo wir nicht wissen, glauben wir, wo wir nicht sehen, füllen wir mit unserer eigenen Vorstellung alle Lücken, wo das entworfene Bild zurückweicht oder schwindet, halten wir es fest und greifen nach Werkzeugen, es zu erzwingen. Wie füllen ein Gegenüber mit uns selbst, mit dem, was wir für erwünscht, für richtig halten und glauben schließlich an unsere eigenen Projektionen. Wir wissen, wie der Partner oder die Partnerin denkt und fühlt, und wenn sie widersprechen, – dann haben sie eben noch nicht genügend lang die eigenen Gefühle erforscht. Nicht nur Mütter wissen besser, was ihre Kinder fühlen, als diese selbst. Wer erinnert sich nicht an die Filmküsse, in der eine Widerstrebende in den starken Armen des Helden noch eine Weile zappelt und dann doch leidenschaftlich dem erst abgewehrten Ansturm entgegenkommt. Solange solche Illusionen tragen, erleben wir auch kein Problem mit ihnen.

Aber wehe, wenn das nicht mehr der Fall ist! „Ich kann es nicht erzwingen!“ Zu dieser Einsicht zu kommen, scheint immer schwieriger zu werden. Wer eine Erwartung geweckt, tatsächlich oder auch nur in der Phantasie eines der Beteiligten ein Versprechen gegeben hat, wird unter Druck gesetzt, bedroht, verfolgt, verklagt. Es ist, als ob das Tempo unserer Beziehungen sich gesteigert hat. Wir können nicht mehr einfach aussteigen. Wer dahinrast, überlegt es sich zweimal, abzuspringen.

Eine Frau trifft einen Jugendfreund wieder. Er ist inzwischen verheiratet, hat zwei Kinder, ist aber einem Abenteuer nicht abgeneigt. Sie hingegen will ihn ganz für sich. Und angesichts erotischer Wünsche ist die Überzeugung schnell bei der Hand, das Gegenüber wisse ganz genau, in welcher Beziehungskiste beide sitzen. Dann wird sie schwanger. Er will das ganz und gar nicht. Alles soll doch geheim bleiben. Er hat das doch genau erklärt! Seine Ehe soll nicht leiden! Wenn sie unbedingt ein Kind haben muss, gut, er zahlt, aber sonst sind sie geschiedene Leute! Andere Männer würden alles abstreiten, keinen Pfennig hergeben! Jetzt erst wird deutlich, dass sie nicht in einer Kiste saßen, sondern in zweien. Für die Geliebte ist er jetzt ein kläglicher Versager, der sich hinter seiner Ehefrau und seinen Kindern versteckt. So verklagt ihn die Verlassene. Der Staat soll dem Sohn einen Vater erzwingen, wenn dieser die erwarteten Gefühle verweigert! Das Kind muss einen Vater haben, sagt sich die Mutter; der Erzeuger ist verpflichtet, nicht nur zu zahlen, sondern seinen Sohn zu erziehen! Der Prozess geht durch die Instanzen.

Berufsrollen unter Druck

Vortrag für die Tagung der Gefängnispsychologen in München
Sollbruchstellen und Stresszonen in Institutionen

Warum sind Erdbeben und Vulkanausbrüche nicht gleichmässig nach dem Zufallsprinzip über die Oberfläche des Planeten verteilt, sondern treten an bestimmten Punkten mit viel höherer Wahrscheinlichkeit auf als an anderen? Die Geologen erklären uns das damit, dass die Erdkuste nicht stabil und überall gleich dick ist, sondern sich aus verschiedenen Schollen zusammensetzt, die auf dem glutflüssigen  Erdinneren „treiben“ – freilich in der dem Geologen vertrauten minimalen Geschwindigkeit.

Dennoch gibt es hektische Ereignisse. Sie machen sich als Erd- oder Seebeben bemerkbar, wenn sich zwei dieser treibenden Schollen verhakt haben und nun plötzlich, mit einem Ruck, neu zueinander stellen. Dann schwankt die Erde, Häuser stürzen ein, Gasleitungen explodieren und Flutwellen verwüsten ganze Küstenlandschaften. Vulkane brechen aus, weil die Erdkruste an manchen Stellen dünner ist als an anderen und Lava aufsteigt. Dann entstehen die hot spots, heisse Zonen, in denen ein Lavaschlot wie ein Schweissbrenner die Erdkruste aufschneiden und beispielsweise neue Inselne schaffen kann. So erklärt man sich das Entstehen von Madeira, der Kanaren und Azoren im Atlantik, von Hawai und seinen Schwesterinseln im Pazifik. Erdbeben und Vulkanausbrüche treten oft verschwistert auf. Sie kündigen sich gegenseitig an. Wo viele Vulkane aktiv sind, gibt es in der Regel auch Erdbeben, wo Erdbeben häufig sind, müssen wir nach aktiven Vulkanen meist nicht weit suchen.

Wenn wir nun Institutionen betrachten, jene vom Menschen geschaffenen, relativ beständigen Gebilde, dann können wir in ähnlicher Weise feststellen, dass Konflikte, Reibungen, größere und kleinere menschliche Katastrophen nicht zufällig verteilt sind, sondern in ganz bestimmten Zonen besonders häufig und verheerend ausbrechen.

Wir können den Gedanken von Harald Pühl  hinzuziehen, dass Institutionen von Menschen geschaffen werden, um Ängste in Schach zu halten, und ihn erweitern: nicht nur Ängste, sondern Affekte ganz allgemein, wobei freilich die Angst deshalb eine besondere Rolle spielt, weil sie im erlebenden Ich immer dann auftritt, wenn dieses „fürchtet“, von einem starken Gefühl überwältigt zu werden.

Du weisst doch genau…!

Es gibt Anekdoten, in denen auf dem Sterbebett das Geheimnis einer Zunft verraten wird, – etwa von jenem Fleischer, der seinem Arzt als Dank für dessen aufmerksame Betreuung das große Metzgergeheimnis ins Ohr flüstert: „Essen Sie niemals Wurst!“ Wenn es ein solches Geheimnis in der Paartherapie gäbe, würde der Satz lauten: „Glauben Sie niemals, dass es nur eine Liebe gibt!“

Etwa die Hälfte aller Ehen wird geschieden, die meisten davon nach der Geburt eines Kindes. Die Betroffenen, ihre Angehörigen und Freunde wissen ebenso wie Anwälte, Richter und Therapeuten, wie grausam solche Trennungen sein können, wie viel Hass, Depression und Uneinsichtigkeit sich in ihnen ausleben können. Über dem Lärmen der Rosenkriege oder dem stillen Kummer der Verlassenen geht leicht die Frage verloren, wie es dazu kommen konnte.

In einer modernen Ehe tun sich zwei Menschen aus freien Stücken zusammen. Sie täten es nicht, wenn sie nicht glauben würden, dass sie einander lieben. Zu dieser ersten Verliebtheit gehört auch die Überzeugung, die wechselseitigen Gefühle seien aus einem Guss. In seinem klassischen Gleichnis aus den Wahlverwandtschaften hat Goethe von chemischen Elementen gesprochen, die eine Verbindung eingehen und so zu einem neuen Stoff werden – aus Natrium, einem Metall, und Chlor, einem Gas, wird beispielsweise Kochsalz, ein lebenswichtiges Gewürz.

Dieser Prozess führt zu der Überzeugung, meine Form der Liebe gelte jetzt für zwei Personen. Wenn ich meinem Partner zuliebe das Rauchen aufgebe, ist es doch selbstverständlich, dass er auch das Trinken sein lässt! Wenn ich nicht vergesse, den Müll zu entsorgen, ist es lieblos von meinem Partner, seinen Dreck mir aufzuzwingen! Wenn ich keine Lust auf Sex habe, muss ein Mensch das verstehen, der mich liebt! Wenn ich mit allen früheren Freundinnen nicht mehr spreche, seit ich mit meiner Liebsten zusammen bin, kann sie mir doch die Eifersucht nicht zumuten, die ich durchleide, weil sie ihre früheren Liebhaber immer noch sieht und behauptet, gut Freund mit ihnen zu sein!

Es gibt einen Halbsatz, der nicht selten zwischen Paaren fällt, die sich mit dem Gesetz der zwei Lieben nicht abfinden können: Du weißt doch genau. Er klagt Vorfahrt für die eigene Form der Liebe ein. Du weißt doch genau, dass ich dies nicht ertragen kann, jenes haben möchte – und wenn du gedankenlos nach deinen eigenen Grundsätzen handelst, musst du dir sagen lassen, dass du mich nicht liebst!

Stalking und andere Phantasiebeziehungen – Der Liebeswahn heute

ORLANDO:
Und das ist nun der Dank, grausame Angelica, für meine Liebe und meine Treue? Aber diese Flucht wird euch schlecht bekommen! Ihr werdet mir selbst in der Hölle nicht entgehen!
ZARATHUSTRA:
Der Verstand muss sich verwirren, er versinkt in tiefes Dunkel, lässt er sich von Liebe leiten.
(2. Akt, Szene 3 u.4)

Händels Oper Orlando ist ein früher Versuch, sich der Verwandlung von Liebe in Wahn, Wut und Hass zu bemächtigen. Händels Lösung, die aufgewühlten Emotionen nicht durch Gegenliebe, sondern durch Vernunft zu zähmen, kündigt die Aufklärung an. Gegenwärtig schwindet der Glaube an die Macht der Vernunft über die Affekte wieder. Liebeswahn ist in der Gestalt des Stalkers zu einem Massenphänomen geworden. Amerikanischen Studien zufolge werden pro Jahr in den Vereinigten Staaten rund eine Million Frauen und 300.000 Männer Opfer unerwünschter Aufmerksamkeit.

Häufig sind es Ex-Partner, die eine Trennung nicht akzeptieren oder flüchtige Bekannte, die sich eine Liebesbeziehung einbilden. Die Verfolger leugnen die Einreden der Vernunft, sprechen von Liebe und agieren Bemächtigung. Sie suchen in ihren Opfern nach einem Selbst, das genau so ist, wie sie es sich wünschen – oder sie rächen sich für dessen Mangel. Ihre sadistischen Aktionen gleichen den Bemühungen des Bildhauers, die im Marmor eingeschlossene Statue aus der blöden Materie zu befreien und ihre nur ihm sichtbare Gestalt freizulegen.

Die realen Gefühle des Opfer sind collateral damage. Vielleicht sind Vampirgeschichten auch aus diesem Grund so beliebt. Vampire sind unsterblich und sehr viel stärker als normale Menschen, solange die Sonne nicht scheint und sie genügend Blut trinken können. Wenn wir Verharmlosungen des ursprünglichen Mythos ignorieren, leben Vampire von dem Blut, das sie anderen nehmen. Das Opfer wird ausgesaugt. Oder aber es wird selbst zum Vampir.

Der zudringliche Liebhaber, der Grenzen nicht achtet, sondern sie einfühlungslos überschreitet, beutet Rücksichtnahme aus, manipuliert Gutherzigkeit, spielt mit Ängsten, droht mit Selbstmord oder Gewalt und hat nachher nur ein wenig übertrieben. Wenn alle so wären wie er, gäbe es ihn gar nicht, er hätte nicht den Freiraum, sich zu entfalten. Er ist der Carnivore unter den Pflanzenfressern und dankt seine Macht der Wehrlosigkeit jener, die vergeblich auf seine Einsicht hoffen, wenn sie ihm diesmal Strafe ersparen.

Das Königreich von Saba und die „Brutstätte des Terrors“

Die Berichterstattung über den Jemen wird Südarabien nicht gerecht. Sie führt das politische Denken in eine gefährliche Richtung

Südarabien ist einzigartig. Nach dem Reich der legendären Königen von Saba, in dem vor dreitausend Jahren die fortschrittlichsten Bewässerungsanlagen der Welt entstanden, wurde der Jemen von jüdischen, christlichen und schließlich muslimischen Fürsten beherrscht. 1969 spaltete er sich in einen sozialistischen Süden und einen konservativen Norden. Heute sucht das wieder vereinte Land einen politischen Weg, in dem die arabischen Stämme immer noch eine wichtige Rolle spielen. Hier stehen einige der schönsten Städte der Erde – Schibam ist ein Venedig des Staubes – in einem Land mit einer hohen handwerklichen Kultur, vielfältigsten Traditionen und großem Stolz auf die Würde der Heimat.

Als am 26. September 1962 die Revolution gegen die Monarchie losbrach, verkündeten die Revolutionäre sechs Prinzipien, die bis heute die Grundlage der Verfassung sind:

  1. Befreiung des Volkes von Despotismus und Kolonialismus zugunsten einer Republik, in der alle Klassenunterschiede und Privilegien abgeschafft werden.
  2. Aufbau einer starken nationalen Armee, um das Land zu verteidigen und die Revolution zu beschützen.
  3. Verbesserung der Lebensbedingungen des Volkes in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht.
  4. Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates auf den Prinzipien des wahren Islam.Nationale Einheit im Rahmen einer vereinten arabischen Staatengemeinschaft.
  5. Achtung vor der Charta der Vereinten Nationen und friedliche Zusammenarbeit mit allen Völkern und Nationen.

Wenn wir uns daran erinnern, wie viel Blut in Europa zwischen 1789 und 1945 vergossen wurde, ehe sich ähnliche Grundsätze durchsetzen ließen, gewinnen wir vielleicht etwas mehr Verständnis dafür, dass der Jemen noch Einiges vor sich hat.

Wenn der Tagtraum zur Sucht wird

Verzicht fällt dem Menschen schwer; er gibt Wünsche ungern auf. Wenn er es tun muß, sucht er, sich zu entschädigen – er schafft sich ein Doppelleben, eine zweite Existenz, in der Wünsche erfüllt werden, ohne daß die Realitätsprüfung einschreitet. Unser Wissen, dass das alles nicht wirklich ist, beeinträchtig die Lust nicht, sondern gibt ihr nur eine andere Qualität.

Freud sagte: „Die Schöpfung des seelischen Reiches der Phantasie findet ein volles Gegenstück in der Einrichtung von ‚Schonungen‘, ‚Naturschutzpark‘ dort, wo die Anforderungen des Ackerbaues, des Verkehrs und der Industrie das ursprüngliche Gesicht der Erde rasch bis zur Unkenntlichkeit zu verändern drohen….Alles darf darin wuchern und wachsen, wie es will, auch das Nutzlose, selbst das Schädliche.“

Wenn ich mich an meine eigenen Tagträume als Pubertierender erinnere, sehe ich heute amüsiert, wieviel von dem Helfer-Thema, das mich später so beschäftigt hat, hier vorweggenommen und ins Grandiose verzerrt ist. Auf meinem recht weiten Schulweg in Passau pflegte ich, nachdem der Vormittag mit seinen sechs Unterrichtsstunden überstanden war, das Rad nach Hause zu schieben und zu träumen. Ich war meist damit beschäftigt, mir auszumalen, wie ich die Helden, die ich aus Abenteuerromanen oder Sagen kennengelernt hatte, aus Gefahren errettete.

Ich war also einerseits stärker als sie und ihnen überlegen, andererseits aber ihr Helfer und Beschützer, was den angenehmen Nebeneffekt hatte, daß ich sie auf diese Weise als Freunde gewann, was nicht gelungen wäre, wenn ich meiner Rivalität freien Lauf gelassen hätte. Das paßte natürlich zu meiner Rolle in der Familie – ich war der Kleinste, der jüngere Bruder, strebte also danach, die Großen gleichzeitig zu übertreffen und versöhnlich zu stimmen.

Lob der Gruppentherapie

Während die klassische Psychoanalyse mit zwei Personen arbeitet und das Gegenüber des Klienten der Experte ist (der dadurch naturgemäß eine sehr mächtige Position gewinnt), stellt die analytische Gruppe eine Großfamilie her, in der ein (manchmal zwei) Leiter einer Mehrheit von Klienten gegenübersitzen. Dadurch wird die Zahl der möglichen Beziehungen multipliziert; das Werkzeug einer analytischen Behandlung, die Übertragung, ebenfalls.

Analytiker, die mit Gruppen nicht vertraut sind, haben daher oft eingewendet, die Übertragungen in einer solchen Gruppe seien unanalysierbar. Natürlich können sie mit solchen Argumenten nur Gläubige überzeugen, die nicht ahnen, dass auch in der korrektesten Einzelanalyse keineswegs alle Übertragungen analysiert werden. Natürlich hat die Einzelanalyse Vorteile, die vor allem darin liegen, dass die Situation besser kontrollierbar ist, stärker in der Hand des Experten liegt.

Die analytische Gruppe befreit sich aber auch von Mängeln der Einzelanalyse. Sie löst die Mitglieder aus der ausgeprägten Abhängigkeit von einer Person, sie begrenzt die Definitionsmacht des Therapeuten und schützt die Klienten vor dem Missbrauch dieser Macht, sie mindert die Möglichkeiten, dass der Klient in der Analyse nicht seine Störungen erkennt und bewältigt, sondern sie in der Sprache des Analytikers neu formuliert und auf diese Weise ausbaut und perfektioniert.

In der Gruppe begegnen wir Menschen, die auf einer Party unser Interesse nur für kurze Augenblicke fesseln würden, wir lernen sie gründlich kennen und müssen uns über Jahre hin mit ihnen und ihrem Leben beschäftigen. Das übt unsere Beziehungskompetenz so, wie ein Hanteltraining die Armmuskulatur.

Denkfehler in der Familienpolitik

Einige Anmerkungen zu der Unterstellung, homosexuelle Paare würden Kindern schaden

Die Adoption eines Kindes durch ein lesbisches oder schwules Paar wird sicher ein seltenes Ereignis bleiben. Aber sie passt manchen Konservativen nicht. Diese begründen ihr Missfallen manchmal auch psychologisch. Ein solches Elternpaar schade der seelischen Entwicklung, denn homosexuelle Eltern würden sich Kinder aus egoistischer Bedürftigkeit zulegen. „Es geht bei dem Vorschlag allein um die Selbstverwirklichung von Lesben und Schwulen und nicht um das Wohl der Kinder“, tönte Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag, gegen den entsprechenden Vorschlag der Justizministerin Brigitte Zypries.

Bizarr ist hier die Unterstellung, dass sich heterosexuelle Paare Kinder vorwiegend (gar ausschließlich?) aus nicht-egoistischer Bedürftigkeit zulegen. Denn natürlich sind Adoptionen in heterosexuellen Paaren nicht weniger komplex motiviert als in homosexuellen Paaren. Wer die menschliche Psyche ein wenig ernst nimmt und es nicht vorzieht, ihre Realitäten zugunsten seiner Vorurteile zu leugnen, wird nicht so recht an die Abwesenheit egoistischer Motive in allen Adoptionen glauben können.

Viele Menschen wollen Kinder haben. So lautet die geläufige Formulierung: Kinder sind unser kostbarster Besitz. Diese ursprüngliche, naive Haltung entwickelt sich in einer gelingenden Elternschaft durch den Austausch mit dem Kind zu einer Liebesbeziehung. Denn auch das Kind will ursprünglich ganz egoistisch versorgende Eltern haben. Wer hat also wen? Nicht die Verleugnung egoistischer Ansprüche, sondern der Austausch über sie entscheiden über das Schicksal einer Elternschaft. Nur so werden beide Seiten befriedigende Lösungen gefunden und können sich festigen.

Die heroinabhängige 17jährige, der geltungsbedürftige Alkoholiker treten ihre Elternschaft ungestört an, wenn sie über minimales Geschick im Umgang mit den Behörden verfügen. Adoptionseltern hingegen unterliegen strengen Maßstäben; die Jugendämter können wählerisch sein, weil hier das Angebot die Nachfrage übersteigt. Wenn die leiblichen Eltern versagen, dauert es meist viel zu lange, bis ein Kind zur Adoption frei gegeben wird.