Alle Artikel in: Artikel

Der schwarze Atem

Gekürzt unter dem Titel Wir sind einander Aussätzige geworden erschienen in Die Welt am 21.1.2022

2020 war das Jahr des Virus, 2021 war das Jahr der Impfungen. Aber was ist 2022? Mein erster Einfall war das Jahr der Erschöpfung,  mein zweiter, der mir besser gefällt: das Jahr der Reparaturen. Es gibt viel heil zu machen. In dem Bestreben, Leben zu retten und Sicherheit zu gewinnen, ist viel kaputt gegangen. Das passierte einfach so. Wer es eilig hat, müsste ein Übermensch sein, um nicht zum Trampel zu werden. Wo gegen Gefahren gehandelt wird, dominiert ein kämpferisches Ego und zieht eine Schleppe [...]

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Die Illusionen der Protestwähler

Ein Artikel der Zeit beschreibt fast liebevoll einen Berliner Anwalt und Steuerberater, der ankündigt, im Herbst AfD zu wählen und das auf folgende Weise begründet: In Deutschland funktionieren viele Dinge schlecht, die aktuell tätigen Politiker sind unfähig, eine Stimme für die AfD wird ihnen eine Lehre sein, sich mehr anzustrengen.

Der Machiavelli-Fehler

Neulich wurde ich wieder einmal nach einem Liebes-Rezept gefragt: Was kann ich tun, damit die Liebe meines Lebens sich nach der Hochzeitsfeier möglichst lange erhält? Ich bin grundsätzlich verlegen um solche Tipps, habe zu oft erlebt, wie Paare sich die guten Ratschläge von Experten um die Ohren hauen. Ich antwortete also nicht, dachte aber doch nach und hatte zwei Einfälle: Lasst einander in Ruhe, denn nichts schmälert die Liebe so sehr wie die Klage über den Mangel ihrer Intensität. Vermeidet den Machiavelli-Fehler! Beide Tipps sind verwandt; erklären muss man aber nur den Machiavelli-Fehler.

Ich habe den zynischen Florentiner immer [...]

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Die Qual der Wahl und die Wohltat des Zwangs

Der erste Teil dieses Essays erschien am 17.11.2021 in der WELT

Es gibt Fälle in der Paartherapie, in denen der Berater Mühe hat, nichts ins Nostalgische abzuschweifen. Wenn es eine moderne Szene gibt, die Love’s Labour’s Lost illustrieren könnte, dann ist es die verlorene Liebesmühe Liebender, die eigentlich gerne ein Kind möchten, aber unsicher sind und nun schon an der Frage scheitern, ob sie die Pille absetzen wollen. Es gibt sicher wichtigere Probleme als das Mitleiden des Therapeuten, was da in den Tagen und Nächten der Gespräche, Vorschläge, Rückzüge über dieses Thema an Lebens- und Liebesqualität verloren geht. Er mag [...]

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Warum sich Kinder böse Eltern machen

Vorwurfsbeziehungen zwischen den Generationen Es würde unserer Vorstellung von einem normalen Verhalten entsprechen, dass wir die Gesellschaft von Personen suchen, die uns gut tun, und Kontakte mit Menschen meiden, die uns kränken. Aber erwachsene Kinder verhalten sich ihren Eltern gegenüber oft gänzlich anders.

»Dauernde Angst macht unglücklich«

SZ Magazin: Nach 1918 sind viele Menschen an Depression erkrankt, die die Spanische Grippe überlebt hatten. Wie ist das zu erklären?

In Zeiten der Rekonvaleszenz werden viele Leute depressiv, deswegen macht man ja auch Rehabilitationen. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es außerdem unglaublich viele Umbrüche: Wer da nicht ganz fit war, war anfälliger für Depressionen. Soldaten sind das ohnehin, sie haben leicht das Gefühl, das Vaterland vergilt ihnen ihr Leid nicht. Die Integration der Soldaten im Frieden ist nach jedem Krieg ein Riesenproblem. 

Ist so eine Häufung von Depressionserkrankungen auch durch Corona zu erwarten?

Das ist sehr schwierig zu vergleichen, [...]

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In Zukunft wird es noch komplizierter

Zwischen dem Problem und dem Dilemma zu unterscheiden ist ein Denkmodell, das uns in schwierigen Situationen weiterhilft. Während das Problem gelöst werden kann, ist das Dilemma unlösbar. Die Corona-Krise liefert viele Beispiele dafür. In den politischen und medialen Reaktionen tritt die Ansteckung durch die Übertragung eines Virus absolut in den Vordergrund, ein typisches Problem mit klarer Ansage – ich bin entweder kontaminiert oder nicht. Das Dilemma meldet sich, sobald wir uns über die komplexen Bedingungen der menschlichen Immunabwehr informieren, die darüber entscheidet, ob und wie wir eine Virusinfektion bewältigen. 

Wenn ich beispielsweise kategorisch verbiete, dass alte Menschen in Heimen von [...]

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Wie groß ist die Bedeutung von Handarbeit für den Kopf?

Ich habe mich diesen Herbst während einer Erkältung nicht geschont und eine Quittung bekommen, die es in sich hat: eine Gürtelrose. Eine faszinierende Krankheit, sagte mein Schmerzarzt: Sobald die Immunabwehr geschwächt ist, erwachen die über viele Jahrzehnte in einem Nervenstrang schlummernden Herpes zoster-Viren, wandern an die Hautoberfläche, vermehren sich dort in einem Bläschen-Ausschlag und schädigen den Nerv derart, dass er auch noch nach dem Heilen der Bläschen schmerzt, als ob glühende Würmer unter der Haut krabbeln.
Gegen Schmerzen helfen Medikamente – und Ablenkung. Wer etwas anders im Kopf hat, von etwas begeistert ist, spürt den Schmerz nicht. Das ist mindestens

[...]

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Der Beichtspiegel

Teil 1. Lebensregeln, die nicht gelebt werden können?

Von allen Versuchen, die Wärme und Vielfalt des menschlichen Lebens mit klaren, kalten Vorschriften bis ins Intime hinein zu regeln, hat die katholische Sexualmoral wohl die längste Tradition und die mächtigste Organisation hinter sich. Aber wie das angesichts solcher aufgeblähten Tyrannei zu geschehen pflegt: Geheime Gänge durchziehen den Untergrund, wie es sie im Mittelalter schon zwischen Mönchs- und Nonnenklöstern gegeben haben soll; das Priestergewand wird zu Camouflage, Heuchelei ist alltäglich.

Meine eigene Laufbahn in der katholischen Kirche begann mit der Taufe und erreichte ihren Höhepunkt im Amt des linken Ministranten (der rechte [...]

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Vom Helden zum Bösewicht in zwanzig Zeilen

Unter anderem Titel erschienen in der „Welt am Sonntag“ am 15.9.2019

„Die Zukunft war früher auch besser“ hat Karl Valentin gesagt; der Satz beleuchtet auch das Schicksal der romantischen Liebe. Zu ihrem Wesen gehört ja eine Zukunft wie der Start einer Rakete in eine Flugbahn, so hoch, dass die Schwerkraft der Erde die beschleunigte Kapsel nicht mehr einfangen wird. Dem gesunden Menschenverstand ist das fremd, und er behält meistens Recht. Das Feuerwerk verpufft, eine ausgebrannte Hülle landet, von Absturz und Aufprall mehr oder weniger beschädigt. Romeo und Julia sind ein unsterbliches Symbol geworden, weil sie diesen Absturz nicht erlebt haben [...]

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