Erschienen im November 2020 (etwas gekürzt) unter dem Titel „Immer auf die Eltern“ in Psychologie heute
Es würde unserer Vorstellung von einem normalen Verhalten entsprechen, dass wir die Gesellschaft von Personen suchen, die uns gut tun, und Kontakte mit Menschen meiden, die uns kränken. Aber erwachsene Kinder verhalten sich ihren Eltern gegenüber oft gänzlich anders. Sie suchen die Nähe zu kränkenden Eltern und weisen Gaben – etwa bares Geld – empört zurück, die sonst erfreut eingesteckt werden. Sie wollen verstanden werden und fühlen sich unverstanden.
Entwertend und voller Klagen über Eltern zu sprechen bedeutet keineswegs, dass die Bindung an sie schwach, die Wünsche an sie zurückgenommen sind. Sie werden nach wie vor gebraucht. Manches an den Äußerungen der erwachsenen Kinder hört sich an, als ginge es um die Rechtfertigung für einen eigenen Mangel an Lebenszufriedenheit oder Zukunftshoffnung. Die Eltern sind etwas schuldig geblieben, was sie hätten geben können, wenn sie nur gewollt hätten, – und die Folgen sind schlimm.
Es gibt erwachsene Kinder, die jedes zweite Wochenende weite Fahrten auf sich nehmen, um Eltern zu besuchen, die sie kränken. Ich habe absichtlich dieses Wort gewählt, obwohl „enttäuschen“ ebenso möglich wäre. Aber „enttäuschen“ heißt dem Wortsinn nach, dass eine Täuschung erledigt wird. Die Unfähigkeit, aus der Kränkung diese Enttäuschung zu machen, die Erwartungen tatsächlich zu korrigieren, wird zum Motor des Verhaltens der Gekränkten.
Erwachsene Kinder, welche Fehler ihrer Eltern beklagen, sprechen heute vor allem über Mängel in der Erziehung. Sie vergleichen ihre Eltern mit dem Bild, das sie von „wirklich guten“ Eltern entworfen haben. Sie überzeugen sich, dass die Probleme, die sie jetzt als Erwachsene haben, mit der Differenz zwischen den realen Eltern und diesem Idealbild zusammenhängen.
Damit sind die Eltern nicht in der Vergangenheit und in der äußeren Welt angesiedelt. Sie halten einen Brückenkopf im Inneren der erwachsenen Kinder und kontrollieren vermeintlich von dort aus das Kind. Diese fiktiv fortbestehende Einflussnahme ruft nach Verteidigungsmaßnahmen. Die Eltern ahnen oft nicht, welche Macht ihnen zugeschrieben wird. Sie sind hilflos gegenüber Aktionen des erwachsenen Kindes, die sich gegen eine Besatzungsmacht richten, vom der die Eltern gar nicht wissen, dass sie existiert. Selbst dementen Eltern schreiben die erwachsenen Kinder eine Energie zu, die nur sie selbst besitzen.
Es gibt keine einseitige Transformation. Eine transformierende Beziehung (wie die Erziehung) wirkt in beide Richtungen. Indem die Eltern an das Kind Phantasien herantragen, indem sie ihm Bilder vermitteln, was sie selbst gerne geworden wären und was sie sich wünschen, dass das Kind werde, wecken sie in dem Kind Gegen-Phantasien. Es baut Bilder auf, wie die Eltern beschaffen sein müssten, um die eigenen Ziele zu erreichen und ein befriedigendes Leben zu führen.
Solange das Kind Erfahrungen mit einer äußeren Wirklichkeit macht und die Eltern ihm helfen, diese Erfahrungen zu verarbeiten, halten sich die wechselseitigen Erwartungen an klare Grenzen. Die Realität, mit der sich das Kind beschäftigt, ist konstant und allgemein. In einer Jägerkultur sind diese Konstanten das Verhalten und die Beschaffenheit der Jagdbeute. In einer agrarischen Tradition sind es Anbau und Ernte, Größe des eigenen Grundbesitzes, Frondienste an einen Feudalherrn. Eltern ernähren und schützen ihr Kind, so lange es klein ist. Sobald es selbständiger wird, ist es ebenso wie die Eltern Traditionen unterworfen, die über beiden stehen.
Das ändert sich in der individualisierten Gesellschaft. Jetzt werden die Phantasien der Eltern mächtiger – und ebenso die des Kindes. Das Kind ist vor die Aufgabe gestellt, herauszufinden, wie konform diese Phantasien der Eltern mit seinen eigenen sind. Der Vater findet es beispielsweise „normal“, dass seine 15jährige Tochter zur vorgeschriebenen Stunde zuhause ist und ihm jeden jungen Mann vorstellt, mit dem sie Kontakt haben möchte. Die Tochter findet diese Auflagen sinnlos und grausam, gehen sie doch über das hinaus, was unter ihren Altersgenossinnen als „normal“ gilt.
Es lassen sich zwei Positionen unterscheiden, eine, in der böse Eltern nachhaltig benötigt werden, und eine andere, in der das Versagen der Eltern als Ausdruck begrenzter menschlicher Möglichkeiten gesehen wird.
Position A: „Mein Vater hat mein Leben zerstört. Immer wenn ich an ihn denke, steigt diese Wut in mir hoch. Er kapiert einfach nicht, was er da mit mir gemacht hat.“
Position B: „Mein Vater war total überfordert, als ich in die Pubertät kam, damals habe ich ihn gehasst, jetzt denke ich nicht viel an ihn, aber wenn wir uns sehen, kommen wir miteinander aus.“
Die Unterschiede zwischen beiden Positionen sind nicht durch die faktischen Aktionen zwischen Vater und Tochter bestimmt, sondern durch deren Bearbeitung im bewussten und unbewussten Erleben. Die Erwartungen, bei der nächsten Begegnung eine ganz andere Person zu finden, die z.B. „versteht“, was sie dem Kind angetan hat, hängen mit unbewussten Bildern zusammen.
Das heißt: diesmal ist es die Tochter, die sich bemüht, den Vater zu transformieren. Sie denkt nach, wie sie ihm klarmachen kann, was er ihr angetan hat und was er tun hätte müssen, um ihr eine gute seelische Entwicklung zu bescheren. Sie fasst diese Gedanken zusammen zu Urteilen, wie ein „richtiger Vater“ sein müsste und wie viele Defizite sie ertragen musste, weil er diesem Bild nicht entspricht.
Wenn heute die soziale Kindheit in europäischen Familien länger dauert als die körperliche, ergeben sich nicht nur Konflikte zwischen den Adoleszenten und ihren Eltern. Eine zweite Konfliktquelle sind Dankesschulden, welche die Beziehung zwischen den erwachsenen Kindern und ihren Vätern oder Müttern belasten. Hier wie in vielen anderen Bereichen wird deutlich, dass Zivilisationsschritte die Menschen zwar vor körperlichen Schäden, vor Hunger und Obdachlosigkeit im Alter bewahren, gleichzeitig aber durch sie die seelischen Belastungen wachsen.
Diese seelischen Belastungen ergeben sich daraus, dass mehr imaginäre Elemente in die Kind-Eltern-Beziehung eindringen. In traditionellen Gesellschaften dominiert die physische Nähe von Eltern und Kindern; ohne sie wäre ja die Chance dahin, von den erwachsenen Kindern ernährt und gepflegt zu werden, sobald die eigenen Kräfte schwinden. In den modernen Gesellschaften leben Kinder und Eltern nur noch ausnahmsweise in einem Haushalt. Wo 40jährige nicht ausziehen, denkt der Kliniker an Alkoholsucht oder Psychose.
Je länger die Abhängigkeit des Kindes von den Eltern dauert, desto mehr (oft nicht in ihrem vollen Umfang bewusste) Phantasien wachsen in den Eltern, das Kind müsste ihnen ihre Mühe danken. Umgekehrt wachsen aber auch in den Kindern ebenfalls zum Teil unbewusste Phantasien, die Eltern müssten dankbar sein, dass sie sich so lange über alle möglichen Hürden gequält haben, um die Erwartungen der Eltern an ihren sozialen Erfolg zu erfüllen. Das Kind hat acht Jahre den Eltern zuliebe Cello geübt; die Eltern haben acht Jahre dem Kind zuliebe Instrument und Musikstunden bezahlt.
Da zudem beide Seiten wenig Gelegenheiten haben, ihre Dankesschulden durch körperliche Präsenz und physische Gaben abzugelten, kommen Eltern ebenso wie Kinder in die therapeutische Praxis, wenn die Kränkungen überhand nehmen, dass eine imaginäre Dankesschuld nicht nur ignoriert wird, sondern sogar Gegenforderungen auftauchen: nicht ich bin dir, nein, du bis mir etwas schuldig geblieben.
Wenn eine Studentin sich nicht zutraut, ihr Lieblingsfach zu wählen, sondern studiert, was ihr die Eltern empfehlen, liegt es an den Eltern, die sie nicht ausreichend in ihrer Autonomieentwicklung unterstützt haben. Wenn sich der erwachsene Sohn in seinem Kinderzimmer einnistet, die alleinerziehende Mutter ihn aus Furcht vor seinen Wutausbrüchen durchfüttert und ihm ihr W-Lan kostenfrei überlässt, liegt das daran, dass sie ihn im Babyalter vernachlässigt hat, weil ihr Freund sie schon während der Schwangerschaft sitzen ließ und sie unbedingt weiter arbeiten wollte.
Wenn die Tochter mit ihrer Heilpraxis nicht genug verdient, um die Miete bezahlen zu können, liegt es daran, dass die Mutter ihren Beruf aufgegeben hat und als vaterabhängige Hausfrau der Tochter kein Vorbild war, wie man sich durchsetzt.
Wer sich lange unter Psychotherapeuten bewegt, selbst als solcher gearbeitet und später Therapeuten ausgebildet hat, kann nach meinen Eindrücken eigentlich der Scham nicht entgehen, dass seinesgleichen und womöglich er selbst zu Konstruktionen einer Schuld der Eltern beigetragen hat. Die Psychoanalyse hat zwar die längste Geschichte, was die Einsicht in die Dynamik einer idealisierenden Übertragung angeht. Aber das bedeutet keineswegs, dass Psychoanalytiker konsequent darauf verzichten können, eine zugewiesene Rolle als die besseren Eltern unkritisch anzunehmen, statt sie kritisch zu befragen.
Wenn ein Therapeut unsicher ist, ob seine Arbeit Früchte trägt, wenn er an sich selbst zweifelt und diesen Zweifel nicht sinnvoll und produktiv findet, sondern mit Schuld- und Schamgefühlen auf ihn reagiert, dann stehen ihm zwei Auswege offen. Er kann selbst die Abstinenz verletzen und hoffen, bei seinen Klienten Trost zu finden, oder aber er kann (meist gemeinsam mit den Kranken) die Eltern seiner Patienten schwarz malen, um aus dem Kontrast zu diesen heller zu leuchten. Die defensiven Eigenschaften solcher Manöver sind in ihrer Schwarz-Weiß-Zeichnung und im Mangel an Selbstreflexion abzulesen. Aber gerade diese Qualitäten machen auch ihre Faszination aus.
Wie wir von guten Eltern alles Gute erhoffen, können wir fehlerhafte Eltern immerhin für alles Böse verantwortlich machen. Wer Prestige hat und Sinn stiftet, muss eine reine Gestalt sein. Er weckt Neid, der in voller Wut losbricht, wenn er sich als eigennützig entlarven lässt. Die nun sich selbst ernennenden Richter projizieren auf ihr Feindbild ein Stück eigener narzisstischer Unersättlichkeit. Sie selbst sind sich – mit gutem Grund – der Reinheit ihrer Motive nicht ganz sicher. Aber solange sie eindeutige Teufel bekämpfen, stehen sie fleckenlos da.
Die erwachsenen Kinder halten das Bild von Eltern fest, die stark und differenziert genug wären, um bei gutem Willen und entsprechendem Einsatz der nächsten Generation genau das zu geben, was ihr fehlt. Leider entziehen die Eltern sich böswillig oder gleichgültig dieser Aufgabe. Sie verweigern dem Kind etwas, auf das es ein Recht zu haben glaubt: Eltern, die so stark und einsichtig sind, wie man sie gerne hätte.
Die Tochter hat ein Psychologiestudium abgeschlossen. Sie lebt in einem Dauerkonflikt mit ihrer Mutter, die nach langen Arbeitsjahren als Hilfskraft in der Paketsortierung in Rente ist. Die Tochter erscheint mit rotgeweinten Augen in ihrer Analyse. „Ich habe meine Mutter besucht, bin eigens die vierhundert Kilometer gefahren, und was hat sie gemacht? Sie hat mir einen Geldschein zugesteckt. Ich will doch kein Geld von ihr, ich verdiene selbst genug, ich will, dass sie endlich versteht, wie ich lebe und was ich geleistet habe! Aber das interessiert sie nicht, sie fragt nur, wann ich endlich schwanger bin, weil sie sich ein Enkelkind wünscht. Ich habe das Geld natürlich nicht genommen, aber ich hatte dann doch ein schlechtes Gewissen, als ich sah, wie sie das gekränkt hat. Aber ich bin es leid, mich selbst zu verleugnen, nur damit sie glaubt, es sei alles in Ordnung.“
Im Erleben der Tochter ist die Mutter zur Psychologin mitgewachsen. Gleichzeitig vertieft die Mutter, ohne um diese Verletzung zu ahnen, eine Wunde im Selbstgefühl der Tochter. Diese hat sich bisher nicht zugetraut, schwanger zu werden; die Männer, die sich an sie binden wollten, fand sie uninteressant, zu weich, während die Männer, mit denen sie sich Kinder vorstellen konnte, selbst gebunden waren und ein sexuelles Abenteuer suchten. Hätte die Mutter Verständnis für diese Probleme? Sicher ist das nicht, aber die Tochter versucht gar nicht, ihre Geschichte zu erzählen.
Die Tochter hält umso energischer an einem Mutterbild fest, das ihr ebenbürtig ist, je weiter sie sich seit ihrem Eintritt in eine höhere Schule und ihrem Studium von der realen Mutter entfernt hat. Die Psychologin erinnert mit heftiger Scham, wie sie in den ersten Gymnasialklassen die Mutter entwertete und sich versteckte, wenn diese einmal vorbei kam um sie abzuholen. Erst wenn die Kameradinnen verschwunden waren, wagte sie sich aus ihrem Versteck und näherte sich der Mutter wie einer Fremden. Neben den Müttern ihrer Klassenkameradinnen wirkte die Hilfsarbeiterin plump. Sie war schlecht gekleidet und wusste nichts von small talk. Die Tochter wünschte sich eine andere Mutter, sie schämte sich dieser Frau und fühlte sich schuldig über diese Scham. Sie lernte fleißig, um zu verhindern, dass die Schule Kontakt zur ihren Eltern aufnahm. Sie fälschte die Unterschrift der Eltern unter die Mitteilungen über Elternsprechtage, weil sie vermeiden wollte, dass ihre Lehrer die Mutter kennen lernten. Das fiel nie auf, da die Eltern getrennt waren, der Vater die Tochter nur selten sah und die Mutter erleichtert war, wenn sie ihre Ruhe hatte.
Die Tochter hätte das Rüstzeug, die Mutter zu verstehen und die Differenz zwischen der eigenen und der Entwicklung der Mutter wahrzunehmen. Sie unterdrückt diese Möglichkeit, um ihre Schuldgefühle abzuwehren, dass sie es nicht nur weiter gebracht hat als ihre Mutter, sondern dass sie ihr tatsächlich geistig überlegen ist. Sie ist doch nicht eingebildet! So leugnet sie die Differenz zur Mutter und erklärt sich deren begrenztes Verständnis als Desinteresse, gar bösen Willen: die Mutter ignoriert ihr Studium und macht der Tochter klar, dass sie keine richtige Frau ist.
So erwarten erwachsene Kinder ihre eigenen Stärken von den Eltern. Besonders ausgeprägt scheint das im Mutter-Tochter-Verhältnis. Verglichen mit dem Mutter-Sohn-Verhältnis und der Vater-Tochter-Beziehung sind Mutter und Tochter einander primär näher. Sie reagieren auf Aggressionen mit Schuldgefühlen und verstärktem Bemühen, das Gegenüber von ihren absolut guten Absichten zu überzeugen.
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