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Die Qual der Wahl und die Wohltat des Zwangs

Gedanken zur Impfpflicht

Der erste Teil dieses Essays erschien am 17.11.2021 in der WELT

Es gibt Fälle in der Paartherapie, in denen der Berater Mühe hat, nichts ins Nostalgische abzuschweifen. Wenn es eine moderne Szene gibt, die Love’s Labour’s Lost illustrieren könnte, dann ist es die verlorene Liebesmühe Liebender, die eigentlich gerne ein Kind möchten, aber unsicher sind und nun schon an der Frage scheitern, ob sie die Pille absetzen wollen. Es gibt sicher wichtigere Probleme als das Mitleiden des Therapeuten, was da in den Tagen und Nächten der Gespräche, Vorschläge, Rückzüge über dieses Thema an Lebens- und Liebesqualität verloren geht. Er mag sich sogar sagen, wenn das Entscheiden in der Moderne nicht so schwer geworden wäre, hätte seinesgleichen nicht viel zu tun.

Meist es ist unschwer möglich, sich mit solchen entscheidungsgequälten Paaren darauf zu einigen, dass es sich doch in vormodernen Verhältnissen weniger komfortabel, aber unter weniger seelischem Stress lebte. Eine Schwangerschaft fiel dem Paar auf den Kopf. Niemand musste sich für ein Kind entscheiden. Es war einfach da.

Aus diesem Vergleich lässt sich eine grundlegende Erkenntnis über die Dynamik der Psyche ableiten. Wir Menschen sind konstruiert, die Realität zu bewältigen. Mit der Eventualität tun wir uns schwer. Ein schwangeres Paar ist in aller Regel eine wunderbare Sache, es mag jede Menge Probleme geben, aber sie werden, eines nach dem anderen, abgearbeitet. Aber das Paar im Entscheiden, ob die eigene Liebe stark genug, entschieden genug ist für ein Kind, ob die berufliche Sicherheit ausreicht, den Lebensstandrad zu halten, ob die eigenen Elternerfahrungen (Psychologie im Nebenfach!) sich nicht negativ auswirken werden, ob ein gemeinsames Kind die empfindliche Haut des Vaters oder den schwachen Magen der Mutter…

Ich habe Paare erlebt, die vorab klären wollten, welche Freunde noch zu Besuch kommen dürfen, ob nach der Geburt Stammtischbesuche erlaubt bleiben und das Kind ein zweites Eis bekommt, wenn es das erste fallen lässt. Dürfen wir, wenn wir alleine Urlaub machen wollen, das Kind bei meinen Eltern lassen?  Kurzum: Wir wollen etwas Neues, aber keine der alten Sicherheiten verlieren. Wir sind zu keiner Entscheidung gekommen, aber wir haben alles versucht. Geben wir es diesmal auf, reden wir im nächsten Urlaub nochmal drüber.

Das  Urbeispiel einer Wahl-Qual ist nach einem Denker des Mittelalters Buridans Esel genannt. Ein Esel steht zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen. Er verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll. Schon vorher hat der persische Dichter Al-Ghazālī  (1058–1111) ein ähnliches Dilemma formuliert: Wenn ein durstiger Mann auf zwei unterschiedliche Gläser Wasser zugreifen kann, die für seine Zwecke in jeder Hinsicht gleich sind, müsste er verdursten, solange eins nicht schöner, leichter oder näher an seiner rechten Hand ist…

Die Qual der Wahl ist ein Luxusproblem, das Hungrige und Durstige nicht kennen, anders als Philosophen, die über Entscheidung und Willensfreiheit grübeln. Unsere Emotionen sind auf das Leben in der Kultur der Jäger und Sammler zugeschnitten. Wer bei jeder Begegnung schnell herausfinden muss, ob er Beute machen oder zur Beute werden kann, quält sich nicht mit Eventualitäten. Er handelt und überlegt nachher (wenn er Glück hat), ob er richtig agiert hat.

Unser Leben ist nicht so einfach, hart und gefährlich geblieben. Zur Kulturentwicklung gehört das Erstarken der Angst auf Kosten des Hungers. Der Steinzeitmensch erwacht und hat Hunger. Der Stadtmensch erwacht und hat Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen. Und irgendwann ist es die falsche Entscheidung, auf die richtige zu warten

Unsere Emotionen teilen die Welt in eine erträgliche und eine unerträgliche Hälfte. Unsere  Vernunft kann unendlich viele Vorzüge und Nachteile hinter einer Weggabelung aufzählen. Entsprechend parteiisch sind die Alltagsratschläge, mit denen wir Entscheidungsschwachen auf die Sprünge helfen. Handle aus dem Bauch heraus! Folge Deiner Intuition, deinem Instinkt, deinen Eingebung! Oder aber: Lege eine Liste an mit allen Vorteilen und Nachteilen jeder Entscheidung, gewichte sie nach einem Punktesystem, dann machst du keinen Fehler! Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach, sagen die einen; wer seine Träume aufgibt, gibt sich auf, die anderen.

Eine aktuelle Entscheidungsqual betrifft die Impfung gegen die Covid-Pandemie. Lasse ich mich impfen, lasse ich mich nicht impfen, was spricht dafür, dagegen, – ach, morgen ist auch noch ein Tag! Weil solches Zögern gefährlich ist und den schon sicher geglaubten Sieg über das Virus in Frage stellt, wäre ein staatlich verordneter Impfzwang hilfreich. Die Staaten handhaben das sehr unterschiedlich. Deutsche Politiker glauben, einen Beitrag zum seelischen Wohlbefinden ihrer Wähler zu leisten, indem sie deren Freiheit schützen,  sich für oder gegen eine Impfung zu entscheiden.

Psychologisch überzeugend ist das keineswegs. Denn wenn eine Impfung vorgeschrieben wird (wie früher die Pockenimpfung), fällt sie in ein neues Denkmuster. Sie ist einer der vielen Zwänge, mit denen sich ein moderner Bürger abgefunden hat, Schulpflicht, Führerschein, Geschwindigkeitsbeschränkung, Steuerzahlen, name it! Es gibt ein schönes altes Wort dafür: Staatsraison, ein System von Begründungen, die einfach gelten, damit der Staat funktioniert, starr und stur.

Um das Risiko der Infektion und das Impfrisiko rational zu vergleichen, muss ich naturwissenschaftlich denken und meinen Fähigkeiten vertrauen, Fakten von Gerüchten zu unterscheiden. Wer das nicht leistet, wird auf jeden Fall das Schuldgefühl über eine falsche Entscheidung vermeiden wollen, das unser modernes Leben so vielfältig belastet. Der Zwang nimmt ihm das ab. Er darf aufhören zu grübeln, es gibt etwas zu erledigen. Psychisch kann das eine Wohltat sein, auch wenn die Aktion lästig ist.  

Wir sind in eine Zeit geraten, in der die Vernunft dumm wird, wenn sie das Abwägen und damit Aufschieben zum Selbstzweck macht. Das gilt für die schwer beweglichen und vor allem auf Sicherung ihres Komforts bedachten Länder Europas noch weit mehr als für den Rest der Welt.

Zum Beispiel Brasilien: In Sao Paulo grassierte 2020 die Pandemie derart, dass Särge knapp und Massengräber ausgehoben wurden. Aber am 8. November 2021 ist binnen 24 Stunden niemand mehr an Covid gestorben, fast 100 Prozent der Bevölkerung sind geimpft. Das staatliche Gesundheitssystem kann für Schwerkranke viel weniger tun als Europas Krankenhäuser für die aufwändig versicherten  Bürger. Aber die Brasilianer haben sich vom Sinn der Impfprophylaxe überzeugen lassen. Fast könnte man sagen: je verrückter der Regierungschef, desto vernünftiger die Bevölkerung, denn Jair Bolsonaro behauptet bis heute, er könne nicht dafür garantieren, dass die Impfung nicht Männer in Frauen, Frauen in Männer oder beide in Krokodile verwandle.

Die Auserwählten

Für jemanden, der sich sein Arbeitsleben bemüht hat, Menschen zu helfen, war der Hass doch überraschend, den mein Text über die Qual der Wahl und die psychologischen Vorzüge einer Impfpflicht ausgelöst hat. Ich sei ein Nazi, meine Bücher gehörten in die Mülltonne….Wer solchen Kommentaren schon gelegentlich ausgesetzt war, nimmt das hin. Bewegt hat mich dann doch ein anonymer Brief, eine Kollage aus einem Fragment des gedruckten Artikels in der WELT und einer Impfspritze, übergossen mit einer roten Flüssigkeit, vielleicht Tinte, vielleicht Blut – Blut war jedenfalls gemeint. Kurzum: wer die Impfung gegen Covid in eine Reihe mit der Gurtpflicht im Auto und anderen Einmischungen des Staates stellt, ist ein Mörder.

Nun gehört es zum – je nach Perspektive – Nutzen oder Nachteil der Psychologie, dass sie aus allem etwas herauslesen kann. Also begann ich mir Gedanken zu machen, worin solche Verzerrungen des Urteils wurzeln und ob es möglich ist, sie zu verstehen. Apropos Gurtpflicht: Ich bin so alt, dass ich mich an die Zeit erinnere, in der sich niemand anschnallte. In meinem ersten Käfer, mit Zwischengas zu schalten, gab es immerhin schon Gewinde. Weil ich immer gerne gebastelt habe, baute ich die Gurte selber ein und legte sie auch an. Das war lange Zeit absolut freiwillig, aber mir leuchtete der Vorteil ein, nicht mit Brustkorb und Lenkrad einen Aufprall abzufangen.

Bekannte sagten, niemals würden sie sich anschnallen, das sei hochgefährlich. Sie wüssten aus sicherer Quelle, dass viele Angeschnallte elend in ihrem Auto verbrennen, weil der Gurt sich nach einem Unfall nicht lösen lässt. Aber es gab Forschung und Statistiken, am Ende setzte sich die Gurtpflicht durch. Noch Jahre später be, obwohl ich mich Jahre später an einen Taxisfahrer erinnere, der den Gurt zwar über seine Brust zog, damit es bei Kontrollen nicht auffiel, aber dessen eigentliche Funktion verweigerte, ein Gurtfälscher sozusagen.

Ich habe mich sechzig Jahre lang angeschnallt. Nur ein einziges Mal hat es mich vor Schaden bewahrt, in einem Landcruiser, der sich im Jemen überschlug. Das Auto hatte Gurte, aber niemand benutzte sie; ich musste meinen unter einer Wolldecke herausgraben und saß neben dem Fahrer, der aus dem Auto geschleudert wurde und seither im Rollstuhl sitzt.

Man wird einwenden, dass der Gurt eine äußerliche Sache ist, während die Impfung in den Körper eindringt. Das ist richtig, aber dieses Eindringen ist bis auf jenen winzigen Bruchteil, in dem es unerwünschte Wirkungen gibt, absolut harmlos, wie auch das Anlegen des Gurtes nur zu einem winzigen Bruchteil der Fälle den Fahrer in einem brennenden Auto fixiert. Es geht um die statistische Rationalität, das Abwägen von Nutzen und Schaden, und eine Entscheidung hin zum größeren Nutzen für die eigene Gesundheit und – im Fall der Impfung – für den Schutz Dritter.

Wer das Gespräch mit Impfgegnern sucht, findet dieses Abwägen sozusagen verrutscht: Dem Mainstream der Wissenschaft wird das Vertrauen aufgekündigt, die Pharmaindustrie hat schon oft gelogen, sie lügt auch diesmal, fälscht die Statistiken, es gibt viel mehr Impfschäden als die veröffentlichen Dateien sagen. Nun ist es richtig, dass große Konzerne und mächtige Industrien schon oft versucht haben, die Wissenschaft krumm zu machen. Immer wieder ist es ihnen eine Weile lang geglückt. Aber wenn es eine Institution gibt, die sich selbst reinigen kann und das auch tatsächlich tut, dann ist das doch die naturwissenschaftliche Forschung.

Während populistische Führer in von Korruption geplagter Staaten geradezu regelhaft den Kampf gegen Korruption auf ihren Fahnen schreiben, nicht um diese abzuschaffen, sondern um sie für ihre Anhänger zu erschließen, wird in der Naturwissenschaft nie vom Kampf gegen Fälschungen geredet. Er findet pausenlos statt. Es wird ständig geprüft, kontrolliert, nachjustiert. Wer Daten manipuliert, kommt damit nicht auf Dauer durch.

Pathetisch aufgeblähte Einzelfälle oder das Insinuendo von unterdrückten Wahrheiten, gegen die mutige Aufklärer kämpfen, entsprechen dem, was der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler 1921 in einem heute noch lesenswerten Buch das autistisch-undisziplinierte Denken in der Medizin genannt hat. Auch Akademiker agieren unter Entscheidungs- und Handlungsdruck nicht wissenschaftlich, sondern selbstbezogen und undiszipliniert, schrieb Bleuler seinen Kollegen ins Stammbuch.

Die Impfpflicht ist nicht das große Gute, sondern das kleinere Übel. Sie wird weniger Menschen Angst machen als der Verzicht auf sie, aber jeder Einzelne, der leiden soll, ist einer zu viel. Die Ängste vor der Impfung sind nun einmal in der Welt. Wen sie bedrängen, der kann die Spritze nicht gelassen wirken lassen. Es ist eben nicht einfach, sein Denken so zu disziplinieren, dass es Wahrscheinlichkeiten akzeptiert und sich damit zufrieden gibt, dass etwas schon gut gehen wird, weil es eben sehr oft gut geht.

Je größer und näher die Gefahr, desto größer wird auch die Verzerrung der Risikoeinschätzung. So schiebe ich seit einem Jahr eine Augenoperation vor mir her, die eine trübe Linse austauschen soll, aber mit einem minimalen Risiko der Erblindung behaftet ist. Leider ist das zweite Auge vorgeschädigt, ich habe nur die eine Chance, wieder normal zu sehen, und niemand kann mir garantieren, dass ich nicht zu dem einen von tausend Operierten gehören werde, bei denen etwas schief geht.

Es ist eben ein Teil unserer Erziehung zur Persönlichkeit, zum unverwechselbaren Individuum, der uns von Kindheit und Jugend an ersehnen lässt, etwas Besonderes zu sein. Wenn wir gerne auserwählt wären – können wir dann sicher sein, dass uns nicht gerade auch die finstere Seite des Schicksals erwählen wird? Dass alle anderen Flieger, die gerade in der Luft sind, sicher landen, während der abstürzt, in dem ich sitze? Nimm dich nicht so wichtig, mahnt das Gewissen – aber indem es mahnt, macht es sich doch schon wieder wichtig und reißt uns aus der fatalistischen Gelassenheit, die in einem Slum der dritten Welt wohl einfacher zu haben ist als in einer Altbauwohnung in München-Schwabing.

Die narzisstische Komponente, mit der ich mich vor meiner Katarakt-Operation plage, spielt auch in der Impfdebatte eine wichtige Rolle. Unser Immunsystem, das eindringende Erreger abwehrt, ist ein ganz wesentlicher Teil der eigenen Phantasie über das Ich. Wenn ich alle eindringenden Viren aus eigener Kraft besiegen kann, erhebt das mein Selbst über die Ängstlichen, die sich das nicht zutrauen. Und dieses Gefühl, potenziell auf der Siegerseite zu sein, ein naturwüchsiger Held, soll ich opfern? Nicht gern, auch wenn ich zugebe, dass zu den Zeiten, in denen unser Immunsystem sich entwickelte, kein Fledermaus-Virenmutant im Airbus von Wuhan nach Europa reiste.

Ich erhoffe mir von der Impfpflicht eine von moralischen Blähungen befreite Situation. Es könnte dann Impfmuffel geben, wie seinerzeit die Gurtmuffel; große Worte wie Verantwortungslosigkeit oder eine Verschwörung der Schlafschafe würden verschwinden. Übrig bleiben Menschen, die unterschiedlich mit Ängsten umgehen, und ein Staat, der das ihm Mögliche für die Gesundheit seiner Bürger tut.

Wer Ängste schürt

Wer sich von den bösen Lügen über zehntausende von Impftoten anstecken lässt, wird sich fürchten. Eine von Todesgedanken begleitete Spritze in den Oberarm ist etwas ganz anderes als die realistische Sicht: Minimales Risiko, Schutz vor einer ernsten Krankheit.

Impfmythen haben die Menschheit belastet, seit es Impfungen gibt. So ist die gefürchtete Kinderlähmung sehr erfolgreich und weltweit durch eine Schluckimpfung bekämpft worden. Aber es gab auch Rückschläge, wie in Nigeria.  Dort wurden 2004 in muslimischen Bundesstaaten Gerüchte verbreitet, die „christlichen“ Impfstoffe würden Menschen unfruchtbar machen. Provinzgouverneure förderten die Gerüchteküche; der Streit zwischen muslimischen und christlichen Bundesstaaten ist in Nigeria endemisch.

Der nigerianische Boykott warf das Programm der WHO zur Ausrottung der Polio um Jahre zurück; mit den Mekkapilgern verbreitete sich die Ansteckung wieder bis nach Indonesien; es kostete das Global Polio Program 500 Millionen Dollar, den Schaden einigermaßen gutzumachen.

Vor einigen Tagen kam die Leiterin einer Kindertagesstätte in ihr Coaching. Sie ringt gerade mit der Belastung ihres Teams durch zwei junge Frauen, die sich partout nicht impfen lassen wollen, weil – die Impfung unfruchtbar macht.