Vortrag
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Vom Hexenschuss zum Bandscheibenvorfall oder: Der zerstückelte Schamane

Nach einem Jahr hatte Sidonia eine Anstellung gefunden – leider nicht in derselben Stadt, in der Karl arbeitete, sondern in einem Kreiskrankenhaus, das eine Autostunde entfernt lag.
Es war anstrengend, aber die Patienten freuten sich über die schöne, aufmerksame Stationsärztin. Die Kolleginnen waren freundlich, die Kollegen flirteten mit ihr, was Sidonia mehr genoss, als es ihr im Grunde gefiel. Karl schien sich erotisch längst nicht mehr so für sie zu interessieren wie vor der Hochzeit. Sidonia hatte gehört, dass manche Männer Abwechslung brauchen. Sie hätte aber nie gedacht, dass es so schnell gehen würde. Sie versuchte mit ihm zu sprechen, ob sie etwas ändern sollten, etwas Neues ausprobieren, vielleicht einen heissen Film kaufen und zusammen anschauen?
Karl wehrte ab, nein, er sei völlig zufrieden, Sidonia sei die attraktivste Frau der Welt für ihn, er sei nur etwas überlastet mit der Professur, er müsse überall zugleich sein, sicher werde es im Urlaub besser. Zum Geburtstag schenkte er Sidonia und sich selbst ein gemeinsames Abbonnement für die Oper. So hätten sie doch auch romantische Abende.

Sidonia konzentrierte sich auf ihre Facharztausbildung und wechselte in eine chirurgische Station, wo sie bei Operationen assistierte und bald selbst operierte. Sie wollte Hautärztin werden. Die Arbeit machte ihr Freude, obwohl sie es sehr anstrengend fand, stundenlang am Tisch zu stehen und mit der Lupenbrille Wunden zu nähen. Einige Bausteine wurden ihr aus ihrer Zeit in Neapel anerkannt. Die Prüfung war noch einmal ein Riesenstress; sie wiederholte fast die Hälfte ihres Studiums. In Italien wäre das alles viel leichter gewesen, aber sie durfte sich nicht blamieren, nicht vor Karl.

Einmal gestand Sidonia Karl, sie halte diese Belastungen nur aus, weil sie sich vorstelle, nach dem Examen Pause zu machen. Sie denke immer wieder an ein Baby. Sie sei jetzt 35, da sei es höchste Zeit. Sie werde einfach die Pille weglassen, wenn das Examen vorbei sei.
„Das kannst du tun, aber es wird nicht viel nützen“, sagte Karl. „Ich fürchte, ich muss es dir jetzt doch sagen. Ich wollte nicht darüber reden. Ich habe mich sterilisieren lassen. Ich will das Risiko nicht, dass ich Kinder bekomme. Meine Mutter ist psychisch krank. “
„Und da lässt du mich die ganze Zeit Hormone schlucken!“ schrie Sidonia. „Du bist krank!“
„Das ist doch kein Schade“, sagte Karl. „Manchmal funktioniert die Operation an den Samenleitern ja nicht ganz. Ich wollte sicher gehen. Und sag nur nicht, ich hätte dich da getäuscht. Ich habe immer gesagt, dass ich keine Kinder will! Vielleicht bin ich ja wirklich krank.“

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