Vortrag
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Vom Hexenschuss zum Bandscheibenvorfall oder: Der zerstückelte Schamane

„Schon gut, schon gut, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten“, sagte Dr. Hornbock. „Wir haben hier ein komplexes Programm, mit Kinesiologie, konzentrativer Bewegungstherapie, Atemtherapie, Kunsttherapie und Feldenkrais. Meine Oberärztin wird sich mit Ihnen abstimmen, was Ihnen gut tut. Wenn sie wieder Gesprächsbedarf haben, wenn Ihnen doch etwas einfällt, ich bin jederzeit für Sie da!“
Am Nachmittag ging Sidonia am Seeufer spazieren. Es wehte ein stürmischer Wind. Sie fühlte sich steif und konnte den linken Fuss nicht fest aufsetzen, weil der Schmerz dann bis in den Hinterkopf vibrierte. Aber sie hielt durch. Sie bewunderte die riesigen Eichen, die sich hier und da aus dem Unterholz erhoben. Manche Häuser waren mit Schilf gedeckt, nicht so struppig und flach, wie sie es von den Hütten der Fischer in der Bucht von Neapel kannte, sondern steif und ordentlich, wie mit einem Panzer. Die Fensterrahmen waren sauber mit weisser Ölfarbe gestrichen, und in den Gärten blühten grosse Rhododendron-Sträucher. Aus einem Haus hörte sie Kinderstimmen, und sie musste weinen.

Sie nestelte nach dem Handy und rief Karl an. Er wusste sofort, dass sie es war – vermutlich nicht, weil er so auf ihren Anruf gewartet hatte. Automatische Nummernkennung. „Hallo, Sidonia, gut angekommen? Ist der neue Arzt nett? Ich habe neulich mit dem Kollegen von der Klinischen Psychologie gesprochen, wir arbeiten bei den Magisterprüfungen zusammen. Der hat gesagt, Rückenschmerzen, das ist Psychosomatik!“

„Es geht mir gut“, log Sidonia. Ich weiss noch nicht, wie es hier ist, ich bin gerade am Plöner See, es ist eine wilde Gegend hier, grosse Bäume, hübsche Häuser.“ „Das ist ja die Holsteinische Schweiz“, sagte Karl. „Da war ich mal in einem Tagungshaus. Das lag auch an diesem See, auf einem Hügel, bei Eutin. Du, ich muss Schluss machen, ich bin schnell aus einer Besprechung rausgegangen, mach’s gut, werd‘ gesund, ich würde gerne im August wieder mit dir nach Gargano fahren!“
In dieser Nacht träumte Sidonia von ihrer Schwiegermutter. Die alte Frau, die sie nur ganz selten sah, weil Karl ihre Ansprüche an ihn nicht ertrug, war zu ihr in etwas wie eine Praxis oder Ambulanz gekommen, die sie an das ambulatorio der Commune di Pozzuoli erinnerte, in dem sie ihre erste Stelle nach der laurea angetreten hatte. Kinder und alte Frauen aus den armen Familien waren die häufigsten Besucher gewesen; besser Situierte gingen zu den Privatärzten oder zum medico condotto der Krankenkassen.

Karls Mutter hatte ein grosses schwarzes Mal am Rücken, das Sidonia operieren sollte, ein malignes Melanom. Sie fühlte sich völlig überfordert. Sie war ganz allein. Es gab keinen richtigen OP-Saal, keinen Anästhesisten, nur wenige Instrumente, von denen sie nicht einmal wusste, ob sie steril waren. Obendrein plapperte die alte Frau ständig. Sie bestand darauf, Sidonia zu erklären, was sie machen musste, obwohl sie keine Ahnung über den Ablauf der Operation hatte. Karl war kurz da gewesen und dann wieder gegangen. Er hatte sie im Stich gelassen.

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