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Der schwarze Atem

Die Pandemie hat die Psyche verändert. Wie finden wir zurück?

Gekürzt unter dem Titel Wir sind einander Aussätzige geworden erschienen in Die Welt am 21.1.2022

2020 war das Jahr des Virus, 2021 war das Jahr der Impfungen. Aber was ist 2022? Mein erster Einfall war das Jahr der Erschöpfung,  mein zweiter, der mir besser gefällt: das Jahr der Reparaturen. Es gibt viel heil zu machen. In dem Bestreben, Leben zu retten und Sicherheit zu gewinnen, ist viel kaputt gegangen. Das passierte einfach so. Wer es eilig hat, müsste ein Übermensch sein, um nicht zum Trampel zu werden. Wo gegen Gefahren gehandelt wird, dominiert ein kämpferisches Ego und zieht eine Schleppe von Kollateralschäden hinter sich her.

Die wenig Sichtbaren, die keine laute Lobby haben, litten am meisten. In einer Studie aus Hamburg-Eppendorf berichteten vor der Krise Kinder und Jugendliche zu rund 10 Prozent über Depressionen und Ängste. Während der Pandemie stieg die Zahl auf 15 Prozent für Depressionen und auf 30 Prozent für Ängstlichkeit. Unser Umgang miteinander hat sich nachhaltig verändert.  Es bleibt nicht ohne Folgen, wenn zwei Jahre lang allen Menschen, die Nachrichten lesen oder die Tagesthemen einschalten, eingehämmert wird, dass kein Mensch mehr absolut sicher sein kann, für seine Mitmenschen jenen „schwarzen Atem“ mitzubringen, der in der Mythologie von J.R.R.Tolkien den bösen Geistern vorbehalten ist und jeden siechen lässt, der sich ihm aussetzt.

Es ist, als wären uns über Nacht Giftzähne gewachsen. Wenn ich gesund und kräftig bin, habe ich gute Chancen, das Virus abzuwehren. Aber ich spüre womöglich nichts und stecke doch andere an, die längst nicht so wehrhaft sind wie ich. Genau diese Möglichkeit hat Covid 19 zum Auslöser einer globalen Krise gemacht, die sich in verschiedenen Formen auch in der Psyche jedes Einzelnen festsetzt.

Nur noch im Märchen können sich Rotkäppchen und die Großmutter aufeinander freuen, wenn das junge Ding sich mit dem Kuchen im Körbchen aufmacht, um die Oma zu besuchen. Sicher war die Welt immer gefährlich; gerade in den Märchen fehlt es nicht an Wölfen, Hexen und dem leibhaftigen Teufel. Aber dass ich mich gesund und fröhlich fühle, und doch den Tod bringen könnte, das ist sehr neu und sehr unheimlich.

Weihnachten 2020 sah dann so aus: Eltern und Enkel bringen Plätzchen und eine Thermoskanne mit. Sie sitzen unten im Freien auf der Terrasse in ihren Daunenjacken, oben auf dem Balkon die Großeltern. Weil Familien ohne Sinn für Humor sowieso nichts zu feiern haben, geht das Ganze durchaus freudig über die Bühne. 2021 waren dann alle geimpft, geboostert, getestet in einem Raum – fast wieder normal?

Wer sich mit Vorhersagen zurückhält, ist auch sicher vor Blamagen. Aber soviel lässt sich mit Sicherheit sagen: wir werden nicht zu der Unbefangenheit zurückfinden, die 2019 selbstverständlich war, zu einer Zeit, in der sich Nähe und Distanz impulsiv regelten und wir Freunde besonders fest umarmten, wenn wir sie länger nicht gesehen hatten.

Bis 2019 gab es in meiner psychotherapeutischen Praxis Patienten, die mich mit roter Nase und tränenden Augen anlächelten, mir die Hand drückten und sagten: ich bin zwar erkältet, aber ich bin trotzdem zu Ihnen gekommen. Es wäre taktlos gewesen, sie wieder nach Hause zu schicken, was ich schon damals im Kopf hatte, auch wenn es nicht über die Lippen kam. Aber nach 2020 ist diese Szene verschwunden, eher kommt ein Anruf, eine mail, ich habe einen Schnupfen, komme lieber nicht, können wir telefonieren?

2020 habe ich den Händedruck zur Begrüßung und zum Abschied abgeschafft.  Das Risiko einer Ansteckung auf diesem Weg war immer sehr klein, aber die deutlichste Botschaft der Pandemie ist ja: Wo die Gefahr insgesamt groß ist, zählt auch der kleinste nachweisbare Schutz. Ich kann mir jetzt nicht mehr vorstellen,  Patientinnen und Patienten mit einem Händedruck zu begrüßen und zu verabschieden.

Es ist, als sei ich damit aus der Übung gekommen. Andere Rituale, die als Ersatz vorgeschlagen wurden, Fäuste, Ellenbogen, gar Knie oder Fuß zu verwenden, schien mir immer lächerlich. Der Händedruck hat eine ehrwürdige Tradition, er kommt aus einer Zeit, in der Männer Waffen trugen und wer die nackte Hand ausstreckte und drücken ließ, der trug nichts Gefährliches in ihr. Aber sind nicht die Zeiten vorbei, in denen derlei makroskopische Harmlosigkeit bewies, dass der Gruß besonders herzlich ist? Es liegt eine innere Logik darin, sich von einem Brauch zu verabschieden, der aus ritterlichen Zeiten stammt. Je mehr Menschen und Viren die Globalisierung durcheinanderwirbelt, desto weniger können wir Fremde ungeschützt anfassen. Wir sind einander Aussätzige geworden.

So scheint es mir nur konsequent, wenn ich nicht wieder damit anfange, Hände zu drücken. Zwei Jahre Pandemie haben ausgereicht, um mir klar zu machen, dass ich gar nicht mehr wissen will, wie das geht. Ich begrüße aus Abstand mit einer kleinen Verbeugung. Wenn die Sitzung vorbei ist, stehe ich auf und öffne das Fenster. Meine Klienten gehen aus dem Raum, ich winke ihnen zu, so ist das jetzt und so wird es wohl bleiben.  

Es gibt neue Rituale. Wir zeigen die Impfbescheinigung oder die Bestätigung über den negativen Test. Wir setzen die Maske auf. Auch wenn diese nicht mehr vorgeschrieben sein wird – es wird wohl in Zukunft auch hierzulande und nicht nur im fernen Osten Menschen geben, die es vorziehen, sich vor bösen Aerosolen zu schützen. Einst lagen Zigarettenpackungen auf dem Bürgersteig, heute und in Zukunft sind es Masken.

Die umfangreichste Reparatur wird eine paranoide Stimmung erfordern, die sich in den letzten Jahren bemerkbar macht. Sie ist ein Kind der Angst, ein exzessives Aufgeregtsein, in dem sich die Welt mit imaginären Feinden füllt. Paranoia heißt im Griechischen Vorbeidenken. Der Begriff ist aus der Psychiatrie in den allgemeinen Sprachgebrauch gesickert und wird auf Gedanken und Stimmungen angewendet, in denen Menschen sich verfolgt fühlen, nicht weil sie tatsächlich verfolgt werden, sondern weil sie eigene Aggressionen in andere projizieren.

Gegenwärtig fühlen sich Impfgegner von der Impfpflicht bedroht, als wollte man sie vergiften, während die ärztliche Forschung darlegt, dass der Piks weit mehr bewahrt als gefährdet. Wer mit dem naturwissenschaftlichen Denken vertraut ist, wird die Impfung für einen der gar nicht so zahlreichen medizinischen Fortschritte halten, die großen Nutzen für die Gesundheit mit minimalem Risiko verbinden. Einwände gegen diese segensreiche Erfindung haben jedoch die Menschheit belastet, seit es Impfungen gibt.

Gewiss sind die paranoiden Stimmungen durch die während dieser zwei Jahre in so viele Köpfe gehämmerte Phantasie über den giftigen Atem verstärkt worden. Durch Impfen, Testen, Masken und Kontaktverbote lässt sich die pandemische Gefahr kontrollieren. Aber diese Kontrolle ist immer lästig, oft wirtschaftlich bedrohlich und auf jeden Fall so pauschal, dass der Staat die Last der Nachteile nicht gerecht verteilen konnte. Nichts bringt Menschen mehr auf als die Drohung, ihnen etwas wegzunehmen, an dem ihr Herz hängt. Die Corona-Krise ist zwangsläufig eine Krise des Vertrauens. Wo das Vertrauen kaputt gegangen ist, keimen paranoide Phantasien. Wenn Menschen sich nicht mehr von den urtümlichen Affekten Angst und Aggression distanzieren können, suchen sie nach schnellen und einfachen Lösungen. So fallen sie Schnelldenkern zum Opfer, selbst ernannten Experten, die soeben eine Verschwörung aufgedeckt haben, die sich gegen die rettenden „natürlichen Abwehrkräfte“ richtet. Die Verschwörer sind Institutionen, die wir nicht entbehren können: die Weltgesundheitsorganisation, die wissenschaftliche Forschung, das Parlament, die Medien, die forschende Pharma-Industrie.

In halbwegs friedlichen Zeiten haben Ehepaare, Geschwister, Freunde gar nicht bemerkt, dass sie sich in ihrer Fähigkeit beträchtlich unterscheiden, Ängste und Aggressionen zu verarbeiten. In den Jahren 2020 und 2021 wurden solche Differenzen schmerzlich bewusst. Es gab Ehen, in denen sich die Partner entfremdeten, weil die Pandemie die Beziehung so überlastete, dass die Fundamente bröckelten. Ein Mann will das Haus nicht mehr verlassen und bunkert sich mit gelieferten Vorräten ein. Seine Partnerin möchte weiter in die Arbeit gehen und einkaufen. „Du willst uns umbringen!“ klagt er an. Inzwischen leben sie in Scheidung.

Im Tolkien-Universum gibt es ein Mittel gegen den schwarzen Atem. Es heißt Athelas, ein Elbenword für Königsblatt. Es ist eine eher unscheinbare Pflanze, ich denke an Maiglöckchen: kleine weiße Blüten und grüne Blätter. Wenn es zerrieben wird, verströmt es einen Duft, der an einen Frühlingsmorgen erinnert, düstere Gedanken und das Gift des schwarzen Atems vertreibt.

Misstrauen, Paranoia und Todessehnsucht weichen in Tolkiens Saga nicht den professionellen Ärzten, sondern einem Kind, das eine halb vergessene Heilpflanze findet. Das scheint mir ein versöhnlicher Gedanke. Kinder glauben doch, so lange sie nicht eines Schlechteren belehrt werden, dass Vertrauen bequemer ist als Misstrauen und Liebe stärker ist als Angst.