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Partnerschaft und Babykrise

Die Geburt eines Kindes ist in vielen zivilisierten Ländern die häufigste Ursache einer Scheidung in den ersten Ehejahren. Warum ist das so? Schließlich heiraten Menschen doch mit dem Wunsch, eine Familie zu gründen und mit dem gemeinsamen Kind die Liebesbeziehung zu festigen. Und warum ist diese »Erosion der Liebe« zwischen den Eltern durch das Kind noch nie richtig untersucht worden?

Die Liebe zum Kind wird meist noch energischer gegen alle Bedenken verteidigt als die erotische Liebe. Die Schattenseiten werden ignoriert und ein als gefährdet erlebtes »Glück« durch Verleugnungen gefestigt. Die Probleme werden unter den Teppich gekehrt, wo sie immer weiter wachsen und schließlich unlösbar werden. Eine frühe Wahrnehmung der Krise dagegen ermöglicht es, Wege aus dem Dilemma zu finden.

Lesen sie hier eine ausführliche Rezension und eine kurze Besprechung in der FAZ (pdf).

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Dumme Dinge oder wie die Konsumwelt unsere Intelligenz ruiniert

Einge gekürzte Version dieses Vortrags ist in der Ausgabe 03/12 der Zeitschrift „Psychologie heute“ erschienen

Es ist eine abgründige Frage, warum Menschen das Richtige erkennen, es billigen – und dann doch das Falsche tun. Sie wurde viele hundert Jahre lang von Moralisten gestellt und bezog sich auf das Handeln von Individuen, die beispielsweise wissen, dass Ehebruch verboten ist, diese moralische Haltung auch gegenüber ihrem Partner vertreten – und dann fremd gehen. Heute beschäftigt uns angesichts des Widerspruchs zwischen gutem Wissen und schlechten Tun weniger die Moral von Individuen als die Stabilität von Staaten, der Erhalt der Biosphäre, globale Energie- oder Schuldenkrisen.

Fast alle Konsumgesellschaften treiben Raubbau an der Gegenwart, verbrauchen sehr viel mehr Rohstoffe und Energieträger, als nachwachsen und zahlen die Zinsen für ihre Kredite durch neue Schulden. Wer einen kleinen Kredit haben will und keine Sicherheit bietet, geht leer aus; wer einen Staat führt und nicht die geringste Wahrscheinlichkeit geltend machen kann, dass er dessen Schuldenlast mindern wird, kann problemlos neues Geld leihen.

Wenn uns gegenwärtig unsere Intelligenz nicht daran hindert, Atomkraftwerke zu bauen, Tropenwälder zu roden und die Ozonhülle zu schädigen, dann zeigt das, dass die materiellen Strukturen, die solche Entwicklungen bedingen, stärker geworden sind als die menschliche Einsicht. Ich nenne diese materiellen Strukturen die dummen Dinge und entwickle gegen sie ein Panorama der klugen Dinge, die unsere alte Überlebensintelligenz wieder wecken und fördern könnten.

Zu den dümmsten Aussagen über Technik gehört die, sie sei neutral, es komme darauf an, was der verantwortliche Mensch mit ihr mache. Neutral ist Technik nur, so lange sie nicht vorgaukelt, es gäbe einen Gewinn an Macht ohne Kosten. In der Konsumgesellschaft wird Technik systematisch benützt, um süchtig zu machen; kommerziell erfolgreiche Waren beruhen weitgehend auf solchen Mechanismen.

In einer Fabel aus China lehnt der Weise den Hebelbrunnen ab, weil er fürchtet, durch seine Benutzung selbst wie eine Maschine zu funktionieren. Günter Anders hat diesen Gesichtspunkt der Ansteckung durch die Maschine um den Aspekt der Beschämung durch sie ergänzt. Seine Formulierungen über die „prometheische Scham“ gehören in eine Zeit, in der sich das selbstkritische Individuum noch von den regressiven Reizen der Konsumgesellschaft abgrenzen konnte.

Das Floß der Medusa

Die globalisierte Konsumgesellschaft muss scheitern. Sollten wir daher nicht alles Mögliche tun, uns geistig und emotional auf die Improvisation von Rettungsflößen vorzubereiten?

Inspiriert von der tragischen Geschichte um „Das Floß der Medusa“, zeigt Wolfgang Schmidbauer seinen Lesern, wie die Gesellschaft heute besser sein kann als die Besatzung der „Medusa“ vor über 200 Jahren.

Der Kapitän hatte damals alle Warnungen ignoriert und die Fregatte auf eine Sandbank gesteuert. Dann beanspruchten die Offiziere den viel zu knappen Raum auf den Rettungsbooten und versprachen, den Rest der Passagiere auf einem eilig gezimmerten Floß an Land zu schleppen – und brachen ihr Versprechen. Das Floß war eine Lüge der Mächtigen: Hunger, Kannibalismus und wütende Kämpfe um die verbliebenen Ressourcen führten in die Katastrophe. Wolfgang Schmidbauer findet überraschende Parallelen zu unserem eigenen Umgang mit den existenziellen Krisen der Gegenwart – die Passagiere auf dem wackeligen Floß: das sind wir alle. Der Autor analysiert die Lähmungen, welche der Kapitalismus unserer Psyche zumutet, und fordert uns auf, Gruppen zu bilden, gemeinsam zu lernen und verschüttete Begabungen freizulegen.

»So können wir tragfähige Flöße bauen und eine von unseren eigenen Irrtümern verwüstete Erde neu beleben.«

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Mobbing zum Leben?

Angesichts der Ängste von Experten und Bürgern ist es schwer, über die Hilfe zu einem Tod in Würde zu sprechen

In Primitivkulturen sterben Menschen, die glauben, verhext zu sein, einen psychogenen Tod, den sie sich aus eigenem Entschluss nicht antun könnten. In Hochkulturen gedeihen Phantasien über ein von der Medizintechnik aufgezwungenes, von Schmerz und Scham getränktes Vegetieren. Der Arzt wird dann zur gnadenlosen Autorität, die den Wunsch zu sterben ähnlich abweist wie ein Militär den Wunsch des Soldaten, die Front zu verlassen. Debatten über Sterbehilfe, wie sie auch 2011 wieder auf dem Ärztetag in Kiel geführt wurden, wären überflüssig, wenn Menschen generell in der Lage wären, sich ein Ende nicht nur zu wünschen, sondern ihr Leben auch diesem Wunsch zu unterwerfen. Aber im Normalfall entzieht sich der Tod der Macht des eigenen Willens und bleibt der Macht Dritter unterworfen.

Kein Mensch ist Herr über Leben und Tod. Aber manche sind mächtiger als andere. Der Ärztetag hat nach einer kontroversen Debatte die Formulierungen verschärft, welche Ärzten verbieten, sterbenswillige Kranke in ihrem Wunsch zu unterstützen, in Würde und Sicherheit aus dem Leben zu scheiden.

Dass niemand einen Entschlossenen hindern kann, von einer Brücke zu springen oder sich eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen, ist trivial. Aber es geht in der ganzen Debatte vor allem um Symbole, um Tabus und um die soziale Komponente des Todes. Die Psychoanalytiker haben einen besonderen Bezug zu diesem Thema: ihr geistiger Vater hat von seinem Arzt Sterbehilfe gewünscht -und bekommen.

Freuds Todesspritze

1938, nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich, fand Sigmund Freud Zuflucht in London. Ein Jahr später starb er dort unter denkwürdigen Umständen, die ein Licht auf die Problematik des selbst bestimmten Todes werfen.

Am 10. November 1938 kommentiert Freud fast sprachlos vor Erbitterung die Pogrome in Deutschland, die von Goebbels inszeniert wurden, nachdem ein siebzehnjähriger polnischer Jude einen Sekretär der deutschen Botschaft in Paris niedergeschossen hatte. Etwa 30 000 Juden wurden deportiert, Synagogen verbrannt, Geschäfte geplündert. Zur gleichen Zeit wurden Freuds Werke von der Franco-Diktatur in Spanien verboten.

Das Finanzgewölbe

„Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigsten Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank, war es mir, als ob mein Glück unterginge. Mich schauerte, wenn ich dachte, dass ich vielleicht von allem scheiden müsste, von allem, was mir teuer ist.
Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, dass auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken lässt.“

So schrieb im Jahr 1800 der als preussischer Offizier und als Student der Mathematik gescheiterte Heinrich von Kleist an seine Braut Wilhemine von Zenge. Den Trost vom Gewölbe, das gerade deshalb hält, weil alle Steine auf einmal stürzen wollen, den können wir in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise wieder gut gebrauchen.

Wenn ein kleiner Bauunternehmer überschuldet ist, muss er zum Insolvenzrichter seines Heimatortes. Er darf nicht zu spät kommen, sonst riskiert er eine Strafe. Wenn eine Bank überschuldet ist, hilft ihr der Staat. Und wenn der Staat überschuldet ist? Dann verschleppt er die Insolvenz durch Inflation. Und wenn, wie wir heute wissen, die Gesamtsumme der faulen Papiere, die von internationalen Finanzexperten weltweit verkauft worden sind, fünfzehn mal größer ist als das globale Bruttosozialprodukt?

Kann denn die Weltwirtschaft Insolvenz anmelden? Bei wem?

Ich habe lange gezögert, aus psychologischer Sicht etwas dazu zu sagen. Denn in aller Munde ist die Vertrauenskrise, die Psychologen sind gerufen, etwas gegen sie zu tun, um verunsicherte Bürger von ihrem misstrauischen Schrecksparen abzubringen und die Binnennachfrage anzukurbeln, da die Exporte schrumpfen.

Und für Vertrauen sind die Psychologen zuständig. Wer jetzt nicht ganz schnell wieder seinem Bankberater und seinem fürsorglichen Abgeordneten vertraut, der muss neurotisch sein und braucht dringend Psychotherapie oder wenigstens Psychopharmaka.

Ich glaube aber nicht, dass wir eine kleine, in den Subjekten wurzelnde Vertrauenskrise haben. Ich fürchte, wir haben eine große und unleugbar objektive Krise, die in der Tatsache wurzelt, dass uns genau jene Experten neoliberaler Wirtschaftsführung, die sich unser Vertrauen zurückwünschen, in Schneeballsysteme verwickelt haben, mit denen verglichen Adele Spitzeder und selbst Bernhard L. Madoff harmlos sind.

Vom Segen des Wartens

Zeit und Abstand als klärende Instanzen im Alltag

Es gibt eine orientalische Geschiche „Vom erstaunten Tod“. Der Tod trifft einen Mann, den er irgendwann kennengelernt und mit dem er sich angefreundet hat. Diesem Mann gab eine Stunde zuvor sein Nachbar im Basar in grösster Hast den Schlüssel zu seinem Laden. Er müsse dringend fliehen, sagte der zu dem Mann, er habe soeben den Tod gesehen und reise jetzt nach Samarkand, um ihm zu entgehen.
„Ich bin verwirrt“, sagt der Tod zu seinem Freund. „Ich habe vor einer Stunde in dem Geschäft neben dem deinen einen Mann sitzen sehen, den ich heute Abend in Samarkand holen soll!“

Der psychologische Aspekt an dieser Geschichte hängt mit dem Wiederholungszwang zusammen, den Sigmund Freud als besonders hartnäckige Form des Lernens beschrieben hat. Frühe Erfahrungen formen unseren Charakter; ein geformter Charakter, der auf eine beeindruckbare Umwelt trifft, verändert wiederum diese. Das Ganze kann dazu führen, dass wir, ohne das zu beabsichtigen, vielleicht gerade durch den intensiven Wunsch, etwas unbedingt zu vermeiden, genau die Situation herstellen, gegen die wir uns partout schützen wollten.

Das Hai-Syndrom oder: die Verbesserung des Guten

Hochseehaie unterscheiden sich von Fischen durch zwei Merkmale: durch ein leichtes Knorpelskelett und durch den Mangel einer Schwimmblase. Dieser regulierbare Luftbehälter dient den Fischen dazu, im Wasser stehen zu bleiben, ohne zu sinken. Nur Grundfische wie Schollen können auf ein solches Organ verzichten. Haie hingegen müssen unablässig schwimmen, um nicht unterzugehen.

Menschen zeigen in manchen Verhaltensweisen Ähnlichkeiten zu diesem Phänomen, das bei Haien zu beobachten ist. Das „Hai-Syndrom“ bezieht sich auf eine menschliche Unfähigkeit, etwas einfach „gut sein zu lassen“, wie die Redensart sagt. Im Hai-Syndrom äußert sich eine ängstliche menschliche Grundspannung indirekt. Sie führt dazu, dass ein Zustand verbessert werden soll, der eigentlich schon gut ist. Hinter diesem unruhigen Verbesserungsdruck stehen Ängste des Menschen, der nicht abwarten kann, was die Zukunft bringt. Indem er selbst tätig bleibt, gaukelt sich der Mensch vor, allem vorbeugen zu können, die Situation beherrschen zu können. Doch hat diese Geschäftigkeit im Zusammenleben auch negative Folgen. Denn sie hindert im Zusammenleben daran, einander Wachstumsräume zuzugestehen, den anderen einfach sein zu lassen. Ein Beispiel:

Ein 14-jähriges Mädchen kommt von einer Party nach Hause.
„Wie war’s denn?“, fragt die Mutter
„Wie soll’s schon gewesen sein?“
„Warum bist du denn so unfreundlich!“, sagt die Mutter. „Vielleicht kann ich helfen.“
„Warum lässt du mich nicht in Ruhe!“

Anatolische Reise

Ankara liegt in den Hügeln Anatoliens unter einem schieferfarbigen Himmel, als hätte jemand einen Sack mit Hochhäusern ausgekippt. Am Flughafen haben wir den Leihwagen geholt, einen Fiat Doblo, genügend Platz für vier Erwachsene mit Gepäck. Wir wollen, altmodisch mit Karte und Führer, nach Kappadokien und dann von dort ans schwarze Meer. Hotels müssen wir unterwegs finden. Die Türkei ist gut ausgerüstet für solche Nomaden; die Herbergen bieten annehmbare Qualität für einen bescheidenen Preis. Unser erstes Hotel liegt am Rand des Basars von Ankara. Im Foyer ein Internet Point und ein Aquarium. Darin als Dekoration eine versunkene Galeone, durch deren Geschützpforten Goldfische schwimmen.

Das Hotelrestaurant Pacha in dem Ort Mustafa Pascha acht Kilometer hinter Ürgüp wird der Ruhepunkte unserer Woche in Kappadokien. Es ist ein altes griechisches Haus, hat vielleicht acht Zimmer, einen Hof unter einer Weinlaube und viele liebevoll gepflegte Topfpflanzen. Wir bleiben sechs Tage und merken, dass der Gastraum, in dem Abendessen und Frühstück serviert werden, zugleich auch das Wohnzimmer einer Großfamilie ist. Der Besitzer ist bereits Großvater. Von seinen Söhnen kellnert der jüngere; der ältere hat einen Andenkenladen an der Hauptstrasse, zwanzig Meter weiter. Sie erzählen von ihren griechischen Vorfahren, die sie vor 87 Jahren, zur Zeit der großen ethnischen Scheidungen zwischen Türken und Griechen in Kappadokien, verleugnen mussten. In der Familie wird türkisch gesprochen, das Essen ist liebevoll und sehr aufwendig gekocht. Es scheint etwas wie eine praktische Versöhnung mit den vertriebenen Griechen zu geben, seit das griechische Hotel, das griechische Restaurant und die byzantische Kirchenbaukunst touristisch verwertet werden. Angeblich gibt auch schon wieder Griechen, die verfallene Häuser ihrer Ahnen kaufen und renovieren.

Kappadokien ist voller Wanderwege, entlang an kleinen Feldern zu Zipfelmützen aus vulkanischem Tuff. Die Wächter einsamer Kirchen am Ende von Staubstrassen sind freundlich und hilfsbereit, die Funktionäre im Museum Valley von Göreme behandeln ihre Kundschaft wie Ungeziefer. Dort stehen mindestens zwanzig Busse auf dem Parkplatz. In den Kirchen stauen sich die Gruppen, türkisch, spanisch, japanisch, französisch höre ich an einem Vormittag. Ein türkischer Führer macht einen Scherz über einen byzantinischen Heiligen, seine Gruppe lacht – besser als Bomben gegen Götzenanbeter, denke ich und ärgere mich doch.

Es gibt kaum irgendwo so farbenlebendige Zeugnisse der oströmischen Frömmigkeit gibt wie hier, in der Apfelkirche, der dunklen Kirche, und wie sie heißen mögen. Es muss doch eine sehr meditative Beschäftigung gewesen sein, den Raum, den ein Mensch zum leben braucht, nicht einfach zu haben und ihn dann durch Mauern und Dächer zu schützen, sondern ihn sich, Hammerschlag nach Hammerschlag, aus dem Felsen herauszumeißeln.

Feste Bindungen

Dieser Artikel, der im Abonennten-Magazin des Thalia Theaters erschien, ist ein heimlicher Werbetext für die feste Bindung an ein Theater, den ich in der Zuversicht schreibe, dass er zwei Aufgaben erfüllt: die Aufklärung über sein Thema und die PR für das Thalia. Als Therapeut weiß ich viel über die Schwäche unserer Vorsätze und die Weisheit, diese durch einen Vertrag zu ersetzen. Stimmung, Müdigkeit und schlechtes Wetter nagen an den besten Vorsätzen; der Vertrag hält Stand und befreit von jedes mal neuer Entscheidung. In einer globalisierten Konsumgesellschaft brauchen wir verlässliche Bindungen mehr als den Kick einer hastigen Optimierung, deren Schattenseiten sich zu spät bemerkbar machen.

In der „Zauberflöte“, Mozarts Oper über Licht und Finsternis, erhabene und irdische Liebe, geht es immer wieder um Treue: Tamino bricht das Versprechen, das er der nächtlichen Königin gegeben hat, die Königin sucht ihre Tochter mit dem Treuegebot zu einem Mord zu bewegen, und Papageno sagt, was brave Bürger nur denken: „Ich will dir ewig treu bleiben… so lange ich keine Schönere finde!“

In den Liebesbeziehungen der Moderne, die auf freier Partnerwahl beruhen, wird Untreue fast immer als Verunsicherung, als mehr oder weniger unverzeihlicher Bruch eines Sicherheitsversprechens erlebt. Aber es ist völlig offen, wie dieser Bruch verarbeitet wird. In einem Hollywood-Melodram packt der/die Betrogene gleich nach der schmerzlichen Erkenntnis die Koffer. In den Umfragen der Meinungsinstitute ist „Treue“ nach wie vor ein Wert, ohne den sich die meisten Menschen eine Partnerschaft nicht vorstellen können. Allerdings gibt es einen charakteristischen Abbau dieses Ideals mit fortschreitendem Alter. Zwanzigjährige glauben an die Unentbehrlichkeit der Treue. Fünfzigjährige sind da erheblich bescheidener.

Geborgenheit wird in der Moderne umso wichtiger, je ausgeprägter die Freisetzungsprozesse sind. In Großfamilie, Inselwelt, Dorf, Gebirgstal fühle ich mich geborgen, auch wenn meine Ehe kriselt. Es gibt sozusagen eine Heimat außerhalb des Liebespartners. In den Großstädten ist vielen Menschen allein die Person Heimat, mit der sie Tisch und Bett teilen. Die ungestümen Bürger der Moderne verlieben sich und glauben für eine Weile, sie hätten einen sicheren Ort gefunden. Sie entlieben sich, wenn ein Schatten auf die Beziehung fällt. Nicht wenige verharren in diesem Stadium des swinging single.

Das vertrage ich nicht!

Jeder hat sie in seinem Bekanntenkreis: Gäste, die auf eine reich gedeckte Tafel starren als sei sie ein australisches Gewässer voller Sumpfkrokodile. Ist da Weizenmehl drin? Milch? Eine Spur von Nüssen? Erdbeeren? Kiwis? Fisch? Sie haben eine Lebensmittelallergie, sie müssen diese Feinde ihres Wohlergehens rechtzeitig erkennen und unbedingt vermeiden. Schwingt da ein leiser Vorwurf mit, man habe sie eingeladen, ohne vorher ihre speziellen Diät-Bedürfnisse abzufragen?

Rund zwanzig Prozent der Deutschen glauben, sie würden allergisch reagieren, wenn sie das Falsche essen. Die Spezialisten in den Kliniken korrigieren: Nach genauen Untersuchungen bleiben nur zwei Prozent übrig. In den USA ist es ähnlich, man kann sogar sagen, sie sind uns, wie in anderen Zivilisationsverwirrungen, auch hier voraus, denn dort glauben sogar um die dreißig Prozent, an einer Nahrungsmittelallergie zu leiden; in kritischen Untersuchungen bleiben nach einer Statistik des Nationalinstitutes in Bethesda/Maryland drei bis vier Prozent übrig.

Ein Teil der Diskrepanz lässt sich physiologisch erklären: Wenn Heuschnupfenkranke etwas essen, das ein ähnliches Protein enthält wie etwa Birkenpollen, vertragen sie das nicht. Diese so genannte Kreuzallergie kann viele Obst- und Gemüsesorten betreffen; sie ist aber launisch, weil das betreffende Protein instabil ist; so können Menschen Apfelkompott vertragen, die es beim Genuss roher Äpfel im Mund juckt.

Es ist etwas faul mit unserer Ernährung. Agrarfabriken produzieren ohne Rücksicht auf Artenvielfalt und Tierschutz. Kleinbauern verschwinden, aus Getreide wird Sprit, um die Autos der reichen Länder zu betreiben, oder Viehfutter, um „hochwertige“ Nahrung zu produzieren. Es gibt in den armen Ländern die ersten Aufstände. Wer von umgerechnet einem Euro am Tag leben muss, den lässt es nicht kalt, wenn der Brotpreis steigt. Für jedes Prozent Teuerung der Grundnahrungsmittel durch unsere Luxusbedürfnisse werden weltweit 16 Millionen Menschen mehr hungern.

Da muss man durchgreifen!

Szene beim Ausflug mit dem Fahrrad: Eine kleine Steigung, zwei Frauen und eine Elfjährige mit Schutzhelmen kommen mir entgegen. Abgeschlagen hinter ihnen heulend, mit einem kleinen, vom Weinen geröteten Gesicht ein vielleicht Achtjähriger. Er schluchzt seinen Schmerz und seine Wut hinaus, dass die anderen nicht auf ihn warten und er nicht mithalten kann. „Da muss man durchgreifen!“ sagt ungerührt die eine Frau zur anderen. „Wenn der die Kraft zum Fahren nimmt, die er zum Weinen braucht, haben wir kein Problem mehr!“

Wer gemütlich durch die Landschaft radelt, kann sich so seine Gedanken machen. Meine kreisen um das Wort „durchgreifen“. Es hat einen martialischen Klang, möchte sich doch gleich mit „hart durchgreifen“ verbinden, am liebsten gegen Verbrecher, Asoziale, gegen all das, was sonst im Alltagsbehagen von leben und leben lassen untertaucht.

Wer durchgreift, der wartet nicht, bis etwas geschieht und er sich womöglich seiner Haut wehren muss. Nein, er rottet Gefahren an der Wurzel aus, beseitigt sie, ehe sie ihr Haupt erheben können. Er nimmt den Kollateralschaden in Kauf, dass seine Kontrollwut, sein Jagdeifer den Guten lästig werden, vorausgesetzt, die Bösen können sich auch dann nicht sicher fühlen, wenn sie (noch) gar nichts Böses tun.

Warum aber denkt eine Mutter, die neben ihrer großen Tochter und ihrer Freundin radelt, dass sie bei ihrem Sohn durchgreifen muss, der heulend hinterherstrampelt? Was ist seine Bosheit? Denkt sie, er könnte, wenn er nur wollte? Möchte sie durch die Oberfläche des jammernden Kindes hindurch greifen und seines Trotzes habhaft werden, seiner Verweigerung, die Zähne zusammen zu beißen und mitzuhalten um jeden Preis?