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Freunde bleiben, Feinde werden?

Es gibt Türen, durch die man sehr viel leichter eintreten kann, als man später hinauskommt. Die Ehe ist eine davon. Die Kosten der Urkunde sind minimal, verglichen mit den Beträgen, die bei einer Scheidung fällig werden. Daher will beides realistisch bedacht sein, die Bindung wie die Trennung. Von diesem Trennungsrealismus soll hier die Rede sein.

Dass er Not tut, ist einsichtig. Zu oft entbrennen ausdauernde und kostspielige Kämpfe, die nach einem Hollywood-Streifen „Rosenkrieg“ genannt werden. Die Rose ist das Symbol der Liebe, war aber zwischen 1455 und 1485 das Symbol heftiger Kämpfe um die britische Krone zwischen der roten Rose im Wappen von Lancaster und der weißen Rose von York. Als die Rosenkriege zu Ende waren, war auch die Hälfte des britischen Hochadels ausgerottet.
In dem Film wird sehr anschaulich gezeigt, was passiert, wenn zwei ehrgeizige, erfolgreiche und selbstbezogene Menschen entdecken, dass die Liebe zwischen ihnen geschwunden ist, aber nicht über diesen Verlust trauern können. Sie fangen an, sich als Opfer zu fühlen und den Partner anzuschuldigen. Dieser wehrt sich seiner Haut – und schon ist aus dem Liebespaar ein Hasspaar geworden, das die einst für den Aufbau der Liebesbeziehung eingesetzte Energie gegen den Partner richtet.

Familienrichter können von Bankdirektoren berichten, die lieber ihren Beruf aufgeben und ihr Vermögen ihrer Mutter überschreiben, als ihrer Ex-Frau Unterhalt zu bezahlen. Strafrichter beschäftigen sich mit Vorwürfen sexuellen Missbrauchs, die Auseinandersetzungen um das Sorgerecht vergiften. Wo in der Liebe alles gut sein musste, wird im Hass alles schlecht.

Die moderne, individualisierte Ehe stellt sehr viel höhere Anforderungen an eine Fähigkeit, die in traditionellen Kulturen noch nicht einmal einen Namen hat: Die Verarbeitung von Ambivalenz, die Toleranz für Ambiguität. In arrangierten Ehen, wie sie etwa im Osten noch üblich sind, mögen die Partner darunter leiden, dass sie einander nicht frei wählen konnten. Dafür werden sie aber an einer anderen Stelle entlastet: sie müssen sich keine Vorwürfe machen, welche Torheit sie geritten hat, dass sie ausgerechnet mit dieser unerträglichen Person den Bund fürs Leben geschlossen haben. Es fällt ihnen auch viel leichter, in Ehekonflikten Hilfe bei den eigenen Eltern zu suchen, denn diese sind ja mit verantwortlich für die neue Familie. In Europa hingegen tut sich ein Partner, der seine Liebste gegen den Widerstand der Eltern geheiratet hat, nachher extrem schwer, sich in einem Ehekonflikt Trost und Rat bei Eltern zu holen, die schon von Anfang an gegen diese Verbindung waren.

In der modernen Ehe sind die Partner stark und kreativ, so lange sie sich gegenseitig stützen. Verlieren sie aber diese Stütze, ist jeder sehr einsam und Ängsten ausgeliefert, die mit seiner plötzlichen Isolation zusammen hängen. Angst macht Menschen rücksichtslos und grausam, wie wir etwa nach Massenpaniken feststellen können, in denen die Starken die Schwachen buchstäblich zu Tode quetschen. Angst ist der schnellste, heftigste, für das Überleben wichtigste Affekt. Wir haben Angst, verlassen zu werden, schutzlos zu sein, später: schwächer zu sein, eine Niederlage zu erleiden, das Ansehen in unserer Bezugsgruppe zu verlieren und damit Gefühlen der Scham, Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit ausgeliefert zu sein. Und wir tun in der Regel (fast) alles, damit diese Angst ein Ende hat.

Heilig, still und sehr gefährlich

Wenn sich einer ein rotes Auto gekauft hat, sieht er für eine Weile viel mehr rote Autos parken oder fahren. Dem Autor, der einen Auftrag zu einem Thema hat, geht es nicht anders. Seit ich etwas Analytisches über Weihnachten schreiben soll, kriechen die Weihnachtsgefahren aus allen Ritzen. In Talkshows treten Glücksforscher auf, die bezeichnenderweise im Nebenberuf Kabarett machen (oder umgekehrt). Sie stellen fest, Glück beruhe darauf, dass Erwartungen erfüllt werden, und warnen vor überhöhten Ansprüchen an die fröhliche, selige Zeit.

Notärzte sagen, sie hätten um den 24. Dezember herum besonders viel zu tun, und es seien beileibe nicht nur die tückischen Augenverletzungen durch einen Sektkorken, der weniger festsitzt, als der prüfende Blick eines Flaschenschüttlers erwartet hat. Unglück entsteht, denke ich mir, wenn Erwartungen – endlich springt der Stöpsel aus der Flasche – zwar erfüllt werden, aber ins Auge gehen.
Ein Strafverteidiger behauptet, Weihnachten sei für Familienmuffel in seiner Berufsgruppe ideal, weil es da notrufmässig immer etwas zu tun gäbe. Meine Therapeutenkollegen sagen schon seit Jahren, die Adventstage seien die schlimmsten des Jahres; nie gäbe es so viele Kränkungen und Schuldgefühle zu bearbeiten, so viele über den Mangel an Glück und Harmonie unter dem Lichterbaum enttäuschte Gemüter zu trösten.

Das Phänomen mit den roten Autos entspringt übrigens der gleichen Wurzel wie der weihnachtliche Glücksdruck: Menschen hungern nach sozialen Erfahrungen, welche sie in ihrem Werterleben bestätigen. Weihnachten ist eine solche Erfahrung. Es ist der Event der Kindheit, das Familienfest an und für sich, Jesu Geburtstagsfeier, große Freude für Hirten auf dem Felde und alle übrigen auch. Psychoanalytiker sprechen von Regression, wenn sich Erwachsene zu Kindern machen. Weihnachten ist das Fest der Regression schlechthin. Und das Bibelwort, dass jene, die werden wie Kinder, in das Himmelreich eingehen, garantiert kein störungsfreies Weihnachten, wenn sich alle nur kindisch aufführen nach dem Motto: ich will ja nur das Einfachste von der Welt, dass alles so wird, wie ich es mir vorstelle.

Man wird doch fragen dürfen, weshalb Menschen an Weihnachten Familienmitglieder um einen Lichterbaum versammeln möchten, denen sie das Jahr über wenig zu sagen hatten, um ihnen dort Geschenke auszuhändigen, mit denen diese nichts anfangen können, um schließlich der Kränkung anheimzufallen, dass es an den richtigen Gegengeschenken mangelt. Aus Paartherapieen sind mir Ehemänner in Erinnerung, die mit Gold und Brillianten den Trotz ihrer Frauen zu brechen suchten, welche sich zu Weihnachten „nichts außer einer guten Beziehung“ zu wünschen pflegten, worauf dann das Friedensfest doch wieder in Streit und Besäufnis endete. Ebenso unvergessen ist mir jene depressive und überfürsorgliche Mutter, die noch zwanzig Jahre später ihrem Sohn im Brustton der Selbstgerechtigkeit vorwarf, er habe es vorgezogen, am heiligen Abend nicht die Familie mit seiner Anwesenheit zu beehren, sondern lieber mit Obdachlosen in seiner Studentengemeinde zu feiern, und zwar ohne ihr das zu sagen.

Homo consumens (eBook)

book-dummy_hcZum Auftakt unserer eigenen eBook Reihe wird jetzt eines der ersten Bücher wieder zugänglich gemacht, das sich kritisch mit dem Zusammenhang zwischen Psychologie und Konsumverhalten beschäftigt. Die erste Fassung erschien 1972 unter dem Titel „Homo consumens – Der Kult des Überflusses“. Die Grundthese: In den letzten Jahrzehnten ist an die Stelle des Homo sapiens, der klug genug ist, die Folgen seiner Handlungen einzuschätzen, Homo consumens getreten, der den Planeten ebenso vergiftet wie die eigene Psyche. Verblendet von Leistungsdenken und Sichleistenkönnen, beherrscht von einer Gier, die das Wesentliche gegen das Unwichtige tauscht, droht er die ökologischen Kreisläufe zu zerstören.

Der in „Homo consumens“ angeschlagene, sehr moralische Ton wurde in einer Neuauflage als Rowohlt-Taschenbuch mit dem Titel „Weniger ist manchmal mehr“ durch eine neue Fragestellung ergänzt: Wie viel tragen unsere beruflichen Strukturen und Spezialisierungen zu diesem Prozess bei? Brauchen wir ein neues Verständnis von Heilung, das sich nicht auf Individuen, sondern auf die Ökologie insgesamt bezieht? In diesem Text, der 1983 zuerst erschien, geht es um die Frage der Ökotherapie.

Jetzt ist die letzte, erweiterte, ergänzte und überarbeitete Fassung beider Bücher unter dem alten Titel als eBook zu beziehen. Autor und Webmasterin sind gespannt, wie sich ein solches Projekt entwickelt und ob die Reaktion der Leserinnen und Leser uns ermutigt, weitere Neubearbeitungen und Wiederauflagen auf diesen Weg zu bringen.

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Vieldeutige Rituale

Dieser Artikel ist in einer etwas längeren Version im November 2012 in „Psychologie heute“ erschienen.

Bei vielen afrikanischen Völkern ist oder war eine Beschneidung der Mädchen üblich. Ihnen wurden von älteren Frauen Klitoris und Schamlippen amputiert. Bei den Massai werden Männer wie Frauen beschnitten; damit endet auch eine Zeit der freien Sexualität, die den unbeschnittenen, noch nicht menstruierenden Mädchen erlaubt ist. Genitalverstümmelungen bei Frauen gehen in manchen Gruppen noch erheblich weiter. Die Scheide wird zugenäht (Infibulation), nur der Ehemann hat das Recht, dieses Hindernis zu beseitigen.
Die rituellen Genitaloperationen gehören in den betreffenden Kulturen zur sozialen Regulation der Sexualität. Dem modernen Pragmatiker der Humanität erscheint die afrikanische Beschneidung der Mädchen unzumutbar, von einer barbarischen Grausamkeit geprägt, die durch Gesetze und Aufklärungsaktionen bekämpft werden soll.

Ein Kölner Landgericht definierte nun aber 2012 mit klarer Logik jede Beschneidung als Körperverletzung, nur dann rechtlich unbedenklich, wenn sie von einem mündigen Individuum in freier Entscheidung gewollt wird. Dagegen argumentierten die Vertreter des Brauchtums damit, dass Beschneidung „dem Wohl des Kindes“ diene, hygienische Vorteile habe und Männer ohne Vorhaut gerade so gut leben wie mit ihr. Obwohl in Köln keine Strafe verhängt wurde, steigerte sich die Debatte schnell zur Frage, ob Beschneidungen an Kindern „verboten“ werden sollen, was die bisherige Religionsfreiheit verletzt und Erinnerungen an antisemitische Hetze gegen jüdische Rituale weckt.

Beschnittene Männer berichten in Psychotherapien manchmal darüber, dass sie unter dem Gefühl leiden, es sei ihnen ohne ihr Einverständnis etwas weggenommen worden. In der Tat hat die Vorhaut wichtige erotische Funktionen: Sie erleichtert die Penetration und erhält die sexuelle Erregbarkeit. Die Beschneidung hat demgegenüber eine unrühmliche medizinische Vorgeschichte. Routine infant circumcision (RIC) – routinemäßige Neugeborenenbeschneidung – nennt sich die Praxis, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, um die in der prüden viktorianischen Gesellschaft verpönte Selbstbefriedigung zu erschweren. Die Anfänge der „hygienischen“, sexualfeindlichen Beschneidungen liegen in Großbritannien, wo Vorhaut, aber auch Klitoris im 19. Jahrhundert dem Kampf gegen die Masturbation zum Opfer fielen, lange ehe die Ärzte sich an die erste Blinddarmoperation wagten.

Auch in den britischen Kolonien der viktorianischen Zeit, in Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika verbreitete sich die Routine-Beschneidung aus „hygienischen“ Gründen. Sie wurde allerdings bald auf die Knaben begrenzt. Nirgendwo auf der Welt war der Siegeszug so gewaltig wie in den USA, wo vor fünfzig Jahren unter der weißen Bevölkerung Raten von deutlich über 90 Prozent erreicht wurden.
In Großbritannien wurde 1949 beschlossen, dass im staatlichen Gesundheitssystem die Circumcision nicht mehr kostenfrei sei, weil es sich um keine sinnvolle medizinische Maßnahme handle. Seither ist die Zahl der beschnittenen Männer dramatisch gesunken. Auch in den Niederlanden, in Finnland, in Schweden wurde die Beschneidung im Säuglings- oder Kindesalter durch die medizinischen Standesorganisationen abgelehnt. 2010 forderte der kalifornische Ärzteverband, RIC zu beenden.

Der Wirt Butterblume

Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf scheinbar „gleiche“ seelische Belastungen. Sexueller Missbrauch führt einmal in ein von Angst und Scham gezeichnetes Leben, ein anderes Mal scheint er eine normale Entwicklung nicht zu beeinträchtigen. Ein Opfer wird von quälenden Erinnerungen heimgesucht und findet nie in ein normales Familienleben, ein anderes entwickelt sich unbeeinträchtigt und erinnert sich erst an das Trauma, als es darüber in der Zeitung liest – ach ja, ich war auch einmal in diesem Internat, diesen Erzieher kenne ich, der ist auch zu mir ins Bett gekommen, widerlich das, ich hatte es vergessen!

Angesichts einer körperlichen Verletzung orientiert sich der Organismus daran, möglichst schnell seine Funktionsfähigkeit zurück zu gewinnen. Die körperlichen Prozesse richten sich eindeutig auf Wiederherstellung. Zellfunktionen, Hormonproduktion, Immunreaktionen kooperieren zu diesem Zweck. Der Körper braucht Ruhe.

Aus seelischen Wunden aber will das erlebende Ich eine Lehre ziehen. Es fühlt sich aufgerufen, eine Wiederholung zu vermeiden. Daher wird die seelische Wunde nicht wie die körperliche möglichst bald durch gesundes Gewebe ersetzt. Seelische Wunden werden offen gehalten. Ihre Bedeutung darf sich nicht verbrauchen, ehe nicht genügend Sicherheit zurück gewonnen ist. Ein gut mit inneren und äußeren Sicherheiten versorgtes Kind wird seelische Verletzungen ganz anders verarbeiten können als ein bereits verängstigtes, das besonders viel Halt und Zärtlichkeit braucht.

Auch in Liebesbeziehungen gibt es traumatische Momente. Ein Paar, seit acht Jahren verheiratet. Die Frau erbt ein kleines Vermögen und gibt es ihrem Mann, der schon lange davon träumt, sich mit einer Konzertagentur selbständig zu machen. Nach zwei Jahren ist das Geld weg, die Agentur ist pleite, der Ehemann arbeitet wieder als Angestellter. Zu allem Pech scheint er auch noch jedes erotische Interesse verloren zu haben.

Wir sind gesund, sind jung, wir können doch unser Leben genießen, auch wenn wir das Geld verloren haben„, sagt die Frau. „Ich muss erst wieder zu mir selbst finden und das alles verarbeiten“ sagt der Mann düster. „Ich kann an nichts anderes denken. Ich will mich nicht ablenken, ich muss herausfinden, was da geschehen ist.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass die Frau eine kindliche Position einnimmt, Spaß haben will, während der verantwortungsbewusste Mann gegen sie den Ernst des Lebens vertritt. In Wahrheit aber will er an dem Kinderglauben festhalten, dass in seinem Leben alles glatt gehen müsste. Und seine Partnerin vertritt demgegenüber die ebenso triviale wie rettende Weisheit, den flüchtigen Augenblick zu genießen. Was an vernünftiger Analyse der Pleite irgend möglich ist, hat er längst zu Ende durchdacht. Aber sie hätte einfach nicht passieren dürfen! Vielleicht, wenn er lange genug grübelt, stellt sich heraus, dass es sie gar nicht gibt!

Labeflasche und Nabelschnur

Neulich sah ich ein Foto: Eine Klasse von Abiturienten des Jahrgangs 2012, korrekt verteilt an ihren abschreibsicheren Tischen. Und auf jedem Tisch stand eine Flasche Mineralwasser. Manches habe ich über mein eigenes Abitur im Jahr 1960 vergessen, aber eines erinnere ich genau: wir saßen auch an abschreibsicheren Tischen, aber niemand hatte etwas zu trinken auf dem Pult stehen.

Der Kulturwandel ist mir auch in den Selbsterfahrungs- und Therapiegruppen aufgefallen. Ich arbeite seit den siebziger Jahren mit solchen Gruppen. Anfangs Diskussionen, ob in den Gruppen geraucht werden durfte oder nicht. Bei mir wurde nicht geraucht. Dann Diskussionen, ob gestrickt werden durfte oder nicht. Stricken war mir egal, so lange die Nadeln nicht klapperten.

Die Labeflaschen tauchten im neuen Jahrtausend auf. Sie wurden nicht mehr diskutiert. Sie waren einfach da. Vor allem Frauen, aber auch Männer nahmen, kaum saßen sie, eines dieser gerippten Plastikmonster in die Hand und schluckten, als seien sie auf Rast während einer Expedition in der Wüste und nicht in einem klimatisierten Gruppenraum.

Vor 1990 kann ich mich an keine Gruppe erinnern, die in der ersten Sitzung klären wollte, ob Getränke vorrätig seien. Inzwischen sind solche Nachfragen häufig und die meisten Veranstalter scheinen überzeugt, dass gesunde Erwachsene eine Stunde ohne Flüssigkeitszufuhr nicht verkraften können.

2006 sagte ein Mitglied in der ersten Sitzung vorwurfsvoll, es habe von einer anderen Gruppe gehört, in der es Plätzchen und Tee gäbe. In der nächsten Sitzung erklärte eben diese Teilnehmerin, sie habe sich jetzt bei ihrem Lehranalytiker erkundigt und von diesem erfahren, dass ein Leiter korrekt handle, wenn er keine Plätzchen serviere. Es sei ein Fehler, das zu tun, ein Abstinenzverstoß. Seither habe sie Frieden mit dem Leiter geschlossen. Dann öffnete sie ihre mitgebrachte Thermosflasche und labte sich.

Es ist nur ein winziges Detail, aber ich deute es als Zeichen wachsender Ängste. Für den Redner, dem das Lampenfieber den Mund austrocknet, steht schon seit langem ein Glas Wasser auf dem Pult. Und wenn ich den Mikrokosmos der Gruppenselbsterfahrung betrachte, fallen mir noch andere Zeichen auf, dass die Menschen mehr Angst haben. Sie rebellieren selten gegen Autoritäten. Sie beklagen sich, dass diese nicht gut genug für sie sorgen. Wenn ich in den achtziger Jahren einer Gruppe vorschlug, doch einmal ein Intensivwochenende zu organisieren, waren alle Feuer und Flamme. Wenn ich das 2010 versuche, ernte ich Bedenken. Ob das nicht zu intensiv würde?

Raubritter und Piraten

Hätte der Rechtsstaat in der Weimarer Republik ordentlich funktioniert, wäre Deutschland das nationalsozialistische Regime erspart geblieben: Verhaftet und des Hochverrats überführt, wurde Adolf Hitler zu einer rechtswidrig geringen Strafe verurteilt. Dem Gericht gefielen seine nationale Rhetorik und sein Hass gegen die sozialdemokratische Regierung, auch wenn es die Tat selbst nicht ignorieren konnte. So verhängte es weder die Todesstrafe noch das Zuchthaus, wie es im Gesetz stand, sondern eine Art ritterliche Haft, die Hitler nutzte, um sich zu erholen und sein Comeback zu planen.

Es ist richtig, dass die Justiz nicht das große Gut ist, sondern das kleinere Übel. Und dass viele Menschen die Suche nach dem kleineren Übel verachten, weil sie doch auf dem Weg zu den wirklich großen Zielen nur stört. Aber da ist doch einiges zu bedenken. Die deutsche Geschichte ist hier lehrreich genug. Für mich sind die Nürnberger Rassengesetze das entscheidende Kapitel einer deutschen Traumatisierung im 20. Jahrhundert, die bis heute droht, die Zivilgesellschaft zu vergiften.

Sie entstanden aus der Mitte einer demokratisch gewählten Regierung heraus. Niemand hat je behauptet, er habe davon nicht gewusst. Wer sich anmaßt, dem Mitmenschen seine Rechte zu nehmen, nimmt ihm später auch das Leben. Gemordet haben die Nazis vorwiegend im Verborgenen, aber die Rassengesetze waren öffentlich. Sie zu ignorieren und 1936 sogar noch Olympische Spiele in Berlin zu veranstalten, beschämt nicht nur Deutschland.

Im Land von Kant, Lessing und Goethe wurden deutsche Bürger zu Menschen minderen Rechts erklärt. Sie verloren ihren Beamtenstatus, ihre an deutschen Universitäten erworbenen Diplome galten nicht mehr. Wer sie weiterhin führte, wurde bestraft. Es gab keinen öffentlichen Aufschrei, als ein Blutschutzgesetz Verbindungen zwischen Ariern und Nichtariern als Rassenschande unter Strafe stellte. Die Beschäftigung von arischen Dienstmädchen unter 45 Jahren in jüdischen Haushalten wurde verboten.

Diese Scham angesichts der Gesetze vom 15. September 1935 hat auch eine intellektuelle Qualität. Es war schlicht dumm, vom Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre zu sprechen, aber nichts als das Kriterium der Glaubenszugehörigkeit von Großvater oder Großmutter anzubieten, um Blut oder Ehre zu definieren. Ausgeblutete Arier konnten durch jüdische Blutspenden gerettet werden – und umgekehrt. Das wusste jeder Medizinstudent im ersten Semester.

Ehre ist eine willkürliche Kategorie. Die Ethik der deutschen Aufklärung setzte ihr Bemühen darein, sie zu überwinden und den Totschlag aus verletztem Ehrgefühl als Verbrechen zu verfolgen. Es war der Stolz der europäischen Rechtsphilosophie, sich von dem primitiven Ehrbegriff der Duellanten und selbsternannten Rächer zu distanzieren. Alle diese Fortschritte wurden 1935 ignoriert und in ihr Gegenteil verkehrt. Kein Wunder, dass in den Nachkriegsgenerationen das Recht in Deutschland niemals soviel Respekt erwerben konnte, wie er in den angelsächsischen Ländern selbstverständlich ist.

Harmlos ist die Beschneidung nicht

Erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 3.7.2012

Das Kölner Landgericht hat mit klarer Logik die Beschneidung als das definiert, was sie ist: Körperverletzung, nur dann rechtlich unbedenklich, wenn sie von einem mündigen Individuum in freier Entscheidung gewollt wird. Dagegen argumentieren die Vertreter des Brauchtums – wie auch Mathias Drobinski in der SZ – damit, dass Beschneidung „dem Wohl des Kindes“ diene und Männer ohne Vorhaut gerade so gut leben wie mit ihr.

Hier wird eine breite wissenschaftliche Literatur ignoriert, welche die Bedenkenlosigkeit sehr in Frage stellt, mit der vor allem in den USA Männer aus „hygienischen“ Gründen als Säuglinge beschnitten werden. Beschnittene Männer berichten in Psychotherapien darüber, dass sie unter dem Gefühl leiden, es sei ihnen ohne ihr Einverständnis etwas weggenommen worden. In der Tat hat die Vorhaut wichtige erotische Funktionen: Sie erleichtert die Penetration und erhält die sexuelle Erregbarkeit. Die „hygienischen“ Rechtfertigungen sind durchsichtige Vorwände; sie sollen einen Brauch legitimieren, der sehr alt ist und ein angespanntes Verhältnis zur Sexualität formuliert, das gegenwärtig sogar manchmal als eine Art Penis-Verbesserung gehandelt wird.

Routine infant circumcision (RIC) – routinemäßige Neugeborenenbeschneidung – nennt sich die Praxis, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, um die in der prüden viktorianischen Gesellschaft verpönte Masturbation zu erschweren. Auch in Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika war bzw. ist RIC verbreitet, doch nirgendwo auf der Welt war der Siegeszug so gewaltig wie in den USA, wo in den 1970ern unter der weißen Bevölkerung Raten von deutlich über 90 % erreicht wurden.

Die Entfernung der Vorhaut von Säuglingen ist buchstäblich einschneidender als die von Erwachsenen oder älteren Kindern. Da Vorhaut und Eichel bei fast allen Neugeborenen noch fest verwachsen sind, ähnlich wie Fingernägel mit dem Nagelbett, müssen diese beiden Strukturen zunächst einmal auseinandergerissen werden. Danach wird – je nach Methode – die Vorhaut längs abgeklemmt und eingeschnitten, mit einem Beschneidungsinstrument rundum für mehrere Minuten gequetscht und schließlich mit einem Skalpell amputiert.

Die gesamte Operation dauert bis zu 20 Minuten. Obwohl in medizinischen Studien bewiesen wurde, dass die Neugeborenen extreme Schmerzen erleiden, ist eine adäquate Betäubung auch heute noch eher die Ausnahme als die Regel. Ethisch besonders bedenklich wird RIC zudem dadurch, dass es sich um einen medizinisch unnötigen, kosmetischen Eingriff an einem nicht zustimmungsfähigen Patienten handelt.

Kein nachdenklicher und einfühlender Mensch wird es gutheissen, dass Säuglingen ein Teil ihres Körpers weggeschnitten wird und sie später womöglich in ihren sexuellen Funktionen beeinträchtigt leben müssen. Dass manche dieser Opfer die Beschneidung als sexuelle Bereicherung und hygienische Notwendigkeit propagieren, steht für die Identifikation mit dem Angreifer, die sich bei vielen Traumatisierten beobachten lässt. Sie führt auch zu der merkwürdigen Zähigkeit, mit der Kulturen und Religionen an qualvollen Ritualen festhalten. Ein Lehrbeispiel ist die grausame Genitalverstümmelung, mit der afrikanische Mütter ihre Töchter zu „richtigen“ Frauen zu machen behaupten.

Die gelassene Art, Ziele zu erreichen

Ablenkungsmöglichkeiten gibt es in unserer Gesellschaft ohne Ende; was nicht gefällt, wird weggezappt. Dranbleiben hat hingegen mit Gelassenheit zu tun, mit langem Atem: die Fähigkeit, eigene Ziele zu erkennen und zu verfolgen. Ein Buch, das Lust macht, diese dynamische Haltung ins eigene Leben zu bringen – eine Haltung, ohne die Erotik, Kreativität und Erfolg nicht möglich wären.

Wir kennen Menschen, die ihre Aufgaben pünktlich erledigen und doch Zeit haben, wenn es darum geht, etwas zu unternehmen oder einem Freund einen Gefallen zu tun. Und wir kennen andere, die immer hektisch sind, nie Zeit haben und uns abwechselnd mit grandiosen Vorsätzen oder Geschichten über ihr Pech traktieren. Inzwischen haben sich Arbeitspsychologen, Kreativitätsforscher und Psychotherapeuten mit solchen Unterschieden beschäftigt. Es gibt viele einzelne Ergebnisse in Fachzeitschriften, Lehrbüchern und populären Texten über Zeitmanagement und Arbeitsorganisation.

In diesem Buch wird eine Zusammenschau versucht. Es geht nur am Rande um bewährte Mittel, unsere Konzentration zu steigern und ohne innere Widerstände zu arbeiten. Dranbleiben ist eine Haltung, die wir entwickeln müssen, wenn wir die Gefahren der Moderne ernst nehmen.

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Den Männern fehlen – Männer

Frauen verarbeiten einen gravierenden Verlust – etwa eine Scheidung – besser, wenn sie gute Freundinnen haben, an denen sie in ihrem Schmerz Halt finden. Verarbeiten auch Männer einen solchen Verlust besser, indem sie mit ihren Freunden darüber reden? Nein, sie probieren es erst gar nicht. Auch sie kommen über die Krise besser hinweg, wenn sie gute Freundinnen haben, an denen sie in ihrem Schmerz Halt finden. Vor den Kumpels wird die Blamage eher versteckt. Sehr viel mehr Männer als Frauen entwickeln sich nach einer Liebeskränkung zu Stalkern und verfolgen die Ex. Immer wieder werden sie auch gewalttätig – viel, viel seltener, als sie damit drohen, aber doch weit öfter als Frauen. Frauen können Trennungen besser verarbeiten, einen Mangel an Aufmerksamkeit und Zuwendung geduldiger ertragen, eine Arbeit eher leisten, aus der sich kein Prestige, kein dramatischer Erfolg gewinnen lässt.

Bollwerke männlicher Selbstüberschätzung

Diese Qualitäten konnten die Männer früher als Schwäche, gar als Zeichen der weniger dynamischen und kreativen Persönlichkeit „des Weibes“ schlechthin deuten. Aber diese Deutung bleibt ihnen heute sozusagen im Halse stecken. Denn wenn die arbeitslos gewordene Frau kein Problem hat, eine neue Stelle zu finden, der Mann aber arbeitslos bleibt, brechen die Bollwerke männlicher Selbstüberschätzung zusammen. Junge Frauen sind jungen Männern in ihrer Bereitschaft überlegen, für einen Arbeitsplatz den Wohnort zu wechseln. Nach dem Gesagten verwundert das nicht mehr, ist aber ein Schlag gegen Biologisten, welche Männern eine genetische Überlegenheit im Erschliessen weiter Jagdgründe nachsagen und die Frauen in dem engen Kreis um den heimischen Herd ansiedeln wollen. Heute ist es mehr und mehr so, dass qualifizierte Frauen mobiler sind als vergleichbare Männer. Während sich die Menschen-Männchen in ihren Höhlen verstecken, ziehen die Menschen-Weibchen hinaus in eine Ferne, welche die Männer mehr ängstigt als sie. Seit der Wende sind viele junge Arbeitskräfte in den Westen gewandert. Aber es waren nur 37 Prozent von ihnen Männer. Den Familientherapeuten verwundert das nicht. Er hat oft beobachtet, dass sich Jungen schwerer damit tun, das Hotel Mama zu verlassen. Wie sehen denn die typischen Szenarien aus, in denen junge Frauen und junge Männer ihre Trennung vom Elternhaus organisieren? Die Mädchen ziehen aus eigenem Impuls aus dem Elternhaus, sobald sie können. Sie fühlen sich zuhause eingeengt und möchten sich selbst ausprobieren.

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Männliche Nesthocker

Die Jungen hingegen bleiben, bis die Eltern ihnen eine Trennung nahelegen, die Freundin sie auffordert oder ein Arbeitsplatz weitab von zuhause nach dem Studium (das sie von der elterlichen Wohnung aus absolviert haben) die Trennung erzwingt. Ich lernte einmal die entnervte, alleinerziehende Mutter von drei Söhnen kennen, von denen keiner ausziehen wollte. Sie nahm sich endlich ein eigenes Apartment und überliess ihren Söhnen die geräumige Altbauwohnung für eine Studenten- WG. Junge Frauen sind es gewohnt, sich selbst mit emotionalen Bindungen zu versorgen und diese auch an einem neuen Ort aufzubauen. Junge Männer hängen an dem, was sie haben, an der Mama, an der Disko, in die sie seit Jahren gehen, am Sportverein. Es kommt ihnen gar nicht in den Kopf, wegzugehen. Sie spüren auch keine Ängste vor einer Trennung, das würde nicht in ihr Selbstbild passen. Sie behaupten, sie könnten ihre Freunde nicht im Stich lassen. Viel zu viele Väter haben resigniert. Sie sind chronisch enttäuscht, weil weder ihre Partnerin noch ihre Kinder ernstnehmen, was sie sagen. In den wenig gebildeten Schichten versuchen die Väter manchmal vergeblich, durch Geschrei oder Gewalt ein Stück verlorener Bedeutung zurückzugewinnen. Und in den gebildeten Schichten? Die Mütter sind seelisch besser auf ein Kind vorbereitet und lernen schneller dazu, während die Väter Zeit brauchen, um in die Gänge zu kommen. Die Partnerin müsste sie eigentlich anleiten, sich für das Kind zu interessieren, einen durchdachten Standpunkt zu finden. Wenn sie das nicht tut, hat sie schnell einen verzagten, gekränkten Partner, der sich aus seiner Vaterschaft zurückzieht, „weil ich es dir sowieso nicht recht machen kann!“ Es klingt zynisch, ist aber durchaus realistisch: die typische Reaktion gekränkter Väter ist es nicht, in ihrer Kränkungsverarbeitung zuzulernen. Vielmehr suchen sie sich eine Geliebte, die sie anhimmelt und lassen ihre Frau alleinerziehend zurück. Heute scheitern die meisten Ehen an der Geburt eines Kindes – ein radikaler Wandel gegenüber der früheren Auffassung, dass Kinder eine Ehe zusammenhalten.

Kinderlose Väter

Nur ganz selten bleiben die Kinder beim Vater, was psychologisch eine gute Lösung ist, denn von den Kindern getrennt lebende Mütter gehen diesen selten so verloren wie Väter, die nach dem Scheitern einer Partnerschaft intellektuell wissen, dass sie wichtig sind für ihre Söhne, aber die Kränkungen nicht verarbeiten können, die in Patchworkfamilien entstehen. In seinem Buch über „Die Jungenkatastrophe – das überforderte Geschlecht“ hat der Hamburger Lehrer Frank Beuster seine Kollegen aufgefordert, sich auf das langsamere Tempo und die schlechtere Kränkungsverarbeitung der männlichen Schüler einzustellen.