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Vom Segen des Wartens

So lässt sich das Hai-Syndrom als milde, alltagsnahe Form der Zwangskrankheit beschreiben: als übersteigertes Bestreben, das Gute so zu bessern, bis es zum Übel wird. Wer sich die Hände nicht wäscht und die Tür nicht absperrt, ist nachlässig und geht überflüssige Risiken ein; wer aber die Hände so lange wäscht, bis sie schmerzen und die Tür so oft absperrt, dass er jede zweite Woche ein neues Schloss benötigt, der schadet sich mehr, als ihm die Nachlässigkeit jemals schaden könnte.

„Den kriege ich noch!“

Doch nicht nur die Angst ist eine Triebfeder, ein stets wirkender Impuls, der dem Menschen zu schnellem und unablässigem Handeln auffordert. Eine mindestens ebenso starke Triebfeder ist die Wut, die Menschen so überkommt, dass sie jegliche Distanz und Objektivität verlieren können. Die plötzliche und unkontrollierte Wut überspringt dabei alles, was der Mensch an maßvollem Verhalten und Regeln gelernt hat. Denn dazu braucht es ein kurzes Innehalten, um die Situation zu bewerten und zu verstehen. Auch dazu ein Beispiel:

Am letzten Tag ihres Kurzurlaubs mit ihren zwei schulpflichtigen Töchtern auf einem Reiterhof bei Murnau fuhr die 47-jährige Ärztin Dagmar O. auf einer schmalen, zugeparkten Straße von St. Alban am Ammersee in Richtung Riederau. Sie musste anhalten, weil sich vor ihr ein Ehepaar mit Hund ins Auto zwängte. Ein Radler auf einem Montainbike quetschte sich zwischen den Fahrzeugen durch, beschädigte den Außenspiegel an ihrem Wagen und fuhr weiter. Dagmar O. schrie ihm nach. Der Radler zeigte ihr den Stinkefinger. Ein Passant sagte: „Fahren Sie ihm nach, den kriegen Sie noch.“ Dagmar O. wendete und verfolgte den Radler über fast zwei Kilometer. Auf einem Schotterweg rammte sie ihn und überfuhr den Gestürzten. Der 40-jährige Ingenieur Michael S. blieb schwer verletzt, bewusstlos und mit mehreren Knochenbrüchen liegen. Er kann sich nicht an das Geschehen erinnern und weiß nicht, ob er es war, der das Auto seiner Verfolgerin beschädigt hat.

Vielleicht hat mich diese Geschichte beschäftigt, weil ich den Ort des Geschehens gut kenne – ich selbst habe mich schon oft auf dem Rad durch diesen an heißen Sommertagen zugeparkten Seeweg geschlängelt und die radfahrertypischen Hassgefühle gegen die Blechkisten mehr oder weniger gut verdrängt.

Die Täterin wird jetzt über fünf Jahre ins Gefängnis kommen; die beiden Töchter müssen auf ihre Mutter verzichten, die wohl auch noch die Approbation verliert. Das ist, gemessen an dem Schaden des Opfers, eine milde Strafe. Aber über die Tragik des Einzelschicksals und die Ambivalenz des helfenden Berufs hinaus ist die Amokfahrt am Ammersee noch unter einem anderen Blickwinkel interessant: als krasse Verdeutlichung, dass es in unserer öffentlichen Kultur an der Bereitschaft mangelt, Konflikte nicht zu steigern, sondern zu mäßigen.

Der Weg, einen Konflikt zu mildern, führt zwangsläufig dazu, sich aus dem Geschehen herauszunehmen, es mit Abstand und Zeit zu betrachten – und vor allem dem Wachstum einer Lösung Zeit zu lassen. In dem Beispiel hätte der Radfahrer anhalten, sich entschuldigen, auf seine provozierende Geste verzichten können – und wäre mit gesunden Knochen davon gekommen. Der Passant hätte die Autofahrerin zur Ruhe mahnen und nicht noch aufhetzen können. „Mei, dem hots pressiert!“ So oder ähnlich zu sprechen geböte die viel gerühmte bayerische Gemütlichkeit, die hier wie überall sonst schwindet. Und die langsamen seelischen Prozesse, Einfühlung und Einsicht in die Begrenztheit unserer Rechthaberei, hätten sich auch diesmal gegen die schnellen Affekte von Angst und Wut durchgesetzt: „Das kann ich mir nicht gefallen lassen! Den kriege ich!“

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