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Mobbing zum Leben?

Schur setzt seine Schilderung dieser Szene in seinem Buch so fort:

„Ich sagte ihm, ich hätte mein Versprechen nicht vergessen. Er seufzte erleichtert auf, hielt meine Hand noch einen Augenblick fest und sagte: Ich danke Ihnen. Nach einem Augenblick des Zögerns fügte er hinzu: Sagen Sie es Anna. All das sagte er ohne eine Spur von Gefühlsüberschwang oder Selbstmitleid und in vollem Bewusstsein der Realität.

Ich teilte Anna unsere Unterhaltung mit, wie Freud es gewollt hatte. Als er von neuem schreckliche Schmerzen hatte, gab ich ihm eine Injektion von zwei Zentigramm Morphium. Er spürte schon bald Erleichterung und fiel in friedlichen Schlaf. Der Ausdruck von Schmerz und Leiden war gewichen. Nach ungefähr zwölf Stunden wiederholte ich die Dosis. Freud war offensichtlich so am Ende seiner Kräfte, dass er in ein Koma fiel und nicht mehr aufwachte. Er starb um 3 Uhr morgens am 23. September 1939.“

Es existieren insgesamt sechs Texte Schurs über diese Szene; er hat sich offensichtlich sehr damit gequält, der Wahrheitspflicht des Analytikers zu entsprechen, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, er habe Freud auf dessen Wunsch getötet. So gab er in seinen ersten Berichten die verwendete Morphiumdosis zu gering an, als hätte er tatsächlich nur Schmerzlinderung und nicht Erlösung durch den Tod beabsichtigt. Schur wollte auch Anna Freud schonen. Er erwähnt sie in seinem ersten Bericht überhaupt nicht und schreibt in seinem veröffentlichten nur, er hätte sie in Freuds Auftrag informiert.

Freud hatte aber gesagt, Schur sollte sich mit Anna besprechen und ein Ende machen, wenn auch sie dafür wäre. Peter Gay, der diese Korrekturen von Schurs veröffentlichter Darstellung bringt, hat noch mit Schur persönlich gesprochen und auch andere Berichte gesammelt. Er schließt seine Biographie mit dem Satz: „Der alte Stoiker hatte die Kontrolle über sein Leben behalten – bis zum Ende.“

Was Schur getan hat, ist menschlich überzeugend, vom Gesetz aber in fast allen zivilisierten Ländern mit schweren Strafen bedroht. Die entsprechenden Verbote sind bis heute nur in Holland und Belgien aufgehoben worden, allerdings auch dort nicht in der Weise, dass Schurs höchst persönliche Aktion „legal“ wäre. Sie würde dort allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht verfolgt.

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