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Das kalte Herz

In der Konsumgesellschaft leidet die seelische Reife. Die moderne Geldwirtschaft arbeitet gegen die Gefühle der Menschen. Der Kapitalismus zerstört die Empathie.

»Dichter sehen noch zusammen, was die Wissenschaft trennt«, schreibt Wolfgang Schmidbauer in seinem neuen Buch. Von den früh vollendeten Dichtern, deren Tod Phantasien weckt, was aus ihnen noch alles hätte werden können, ist Wilhelm Hauff einer der bekannteren. Als sein wichtigstes Märchen gilt Das kalte Herz, Teil der Märchensammlung Das Wirtshaus im Spessart. Der Held dieses Märchens, der Kohlenmunk-Peter, will gerne mehr sein, als er ist, weshalb er sein Herz an einen Sendboten des Bösen verkauft, den Holländer-Michel, der das Holz aus dem Schwarzwald teuer in Holland verkauft und so der Repräsentant einer frühen Globalisierung wird. Symbol dafür ist das Herz aus Stein, das reich macht – und kalt bleibt, wenn die Armen klagen.

Wie Peter sein Herz wiedergewinnt und was wir heute tun (und lassen) müssen, um unsere Gefühle nicht ganz zu verlieren, darüber gibt uns Wolfgang Schmidbauer in seiner luziden, mit zahlreichen Beispielen aus Familien- und Liebesbeziehungen ergänzten Analyse überzeugend Auskunft.

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Interview im Zeitmagazin:
„Unser Lebensgefühl ist Unsicherheit“

Kleist

Aus einer Rezension von Christine Kanz, erschienen in: Jahrbuch für Literatur & Psychoanalyse. Freiburger literaturpsychologische Gespräche, Bd. 31, 2012

„Nach begonnener Lektüre möchte man es eigentlich nur ungern aus der Hand legen, es stattdessen in einem Zug von vorne bis hinten, Seite für Seite durchlesen, auch wenn man zwischendurch immer wieder leicht irritiert bis empört den Kopf schütteln muss. Klar ist jedenfalls nach der Lektüre einmal mehr, dass Kunst und Literatur der Wissenschaft und sogar der Philosophie vorausgehen, wenn es um den Tatbestand »existenzieller Probleme« (S. 178), also die Grundfragen des Lebens, geht. Nachvollziehbar wird auch, dass Kleist auf literarischem Wege, durch sein Schreiben, imstande war, die eigenen psychischen Dilemmata aufzulösen oder sie zumindest abzumildern. Es bleibt die Frage, ob dies auch für seine Leser/innen gilt.

Die Erklärung oder Rechtfertigung für sein Vorgehen liefert Schmidbauer dabei erst in der Mitte seines Buchs: »Texte entstehen durch Texte, die ein Dichter in sich aufgenommen und verwandelt hat. Ohne den vergleichenden Blick auf die Texte ist das Werk nicht zu verstehen. Aber der Blick auf den Verarbeitungsprozess in der Person des Autors ergänzt diese Art der Betrachtung; hier siedle ich den möglichen Beitrag der Psychologie an« (S. 142).

Man könnte das neueste Buch Schmidbauers vielleicht insgesamt eine doppelcodierte Analyse nennen, da sie verschiedene Wissensebenen zugleich bedient: Es stellt eine über Strecken hinweg anregende Lektüre sowohl für neugierige Psychotherapeuten als auch für interdisziplinär offene Literaturwissenschaftler dar. Wen die eine Ebene nicht interessiert, der kann sich an die andere halten. Wen beides interessiert, wird doppelt belohnt – meistens.“

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Von der Energiefront nichts Neues

Es gibt in Deutschland zur Zeit kaum einen Politiker, der sich nicht in die allgemeine Betroffenheit über die Katastrophe in den japanischen Atomkraftwerken einreiht. Es verwundert nicht, dass sich jetzt jene ärgern, die schon gegen die Atomindustrie kämpften, als das noch von eben diesen Politikern als weltferne Spinnerei, Technologiefeindschaft und Raub an einer sicheren Energieversorgung bekämpft wurde.

In anderen Ländern sind die Menschen nicht so zimperlich. In einer amerikanischen Zeitung habe ich eine heftige Polemik für die Atomindustrie gefunden, vorgetragen mit einem „humanitären“ Argument: Die Todesopfer durch Atomkraftwerke seien auch nach Fukushima minimal, verglichen mit den Opfern brennender Bohrinseln und einstürzender Kohlegruben.

Unrecht wird nicht Recht, sobald wir es gegen anderes Unrecht aufrechnen. Aber der Gedanke über die Todesopfer an der Energiefront kann nachdenklich stimmen. Wenn gegenwärtig in Libyen, früher in Kuwait, im Irak und noch viel früher in Biafra Menschen sterben, hat das viel mit den Energiejunkies zu tun, welche die Industriestaaten hervorgebracht haben. Es ist ja bekannt, dass der geschickte Drogendealer den Kunden erst einmal anfixen muss – er gibt ihm den Stoff billig und verspricht ihm Glückseligkeit. Wenn der Kunde dann abhängig geworden ist, wird der Stoff plötzlich teuer und der Kunde verspürt kein Glück mehr, sondern nur noch die Angst vor den Entzugserscheinungen, vor dem Versorgungsengpass.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Drittwelt-Diktatoren von der CIA so lange unterstützt werden, wie sie zuverlässig helfen, die Energiesucht der USA zu befriedigen. Und wie der Straßenjunkie in der Bronx dem Passanten mit vorgehaltenem Revolver Geld für Stoff abknöpft, so überlegt der mit allen Wassern der Demokratie gewaschene US-Senator, die Marines in arabische Länder zu schicken, sobald die Bürger dort ihre Erdölreserven einem Konzern wegnehmen wollen, der seine Förderrechte einem korrupten Fürsten verdankt.

Das Unbewusste und der Wald

Dem Naturentzücken und der Ursprungsschwärmerei angesichts des Waldes hält die Wissenschaft gerne entgegen, dass der Wald in Europa genau so Kulturlandschaft sei wie Felder oder Fischteiche. Aber dennoch ist es etwas Eigentümliches mit dem Wald. Er ist anders, und das liegt an den Bäumen.

Weil sie in der Regel länger leben und größer werden als der Mensch, flössen sie uns Achtung und Ehrfurcht ein, gemischt mit Angst, denn der unbewaffnete Mensch kann einem Baum nichts anhaben, der Baum aber auch den Bewaffneten erschlagen, vor allem, wenn ihm die Elemente -Sturm oder Schnee – zu Hilfe kommen. Wenn nach einem Unwetter über Todesfälle berichtet wird, sind die Täter fast immer Bäume. Wenn ich bei starkem Wind unter Bäumen gehe, muss ich oft an den Dichter Odön von Horvath denken, der im besten Alter in Paris von einem Ast erschlagen wurde.

Auf der anderen Seite sind Bäume unendlich nützlich und hilfreich -Sauerstoffspender, Lärmschlucker, Wasserspeicher, nachwachsender Rohstoff. Die Energie, mit der wir unsere Wohnungen vor Kälte schützen und autofahren, kommt von den Bäumen längst untergegangener Wälder. Wir zehren von den Bäumen, sie sind unsere Eltern oder doch Grosseltern.

Die naive Baumkindschaft ging dem Menschen verloren, als er anfing, Pflanzen und Tiere zu züchten. Indem er sie nach seinen Vorstellungen vermehrte, gewann er eine bisher nie dagewesene Macht über seine Umwelt. In den Paradiesmythen ist mit diesem Schritt der Gedanke vom Sündenfall verknüpft. Auch darin spielt ein Baum die zentrale Rolle. Die Menschen im paradiesischen Zustand (im goldenen Zeitalter des griechischen Mythos) pflückten Obst und aßen es, sie ernteten, was der Wald ihnen spendete, Nüsse, Feigen und Granatäpfel.

Die Jäger und Sammler in den Tropen, die es ihnen weitgehend nachtun, arbeiten in der Regel zwei Stunden am Tag, um ihren Nahrungsbedarf zu decken. Sie sind in einem besseren Ernährungszustand als ihre agrarischen Rivalen, solange diese ihnen ihre Jagd- und Sammelgründe lassen. Das haben Studien ergeben, die auf dem inzwischen schon legendären Symposion „Man the Hunter„ in den sechziger Jahren in Chicago vorgetragen wurden.

Schütt Hormone über mich…

Es ist eine fesselnde Frage, weshalb sich Menschen nicht zufrieden damit geben können, dass sie etwas erleben, sondern gerne wissen wollen, warum sie das tun. Eine erste Antwort fällt leicht: Die Suche nach einer Ursache erleichtert es uns in manchen Fällen, Abhilfe zu schaffen. Wer sich einen Dorn in den Fuß getreten hat, tut gut daran, herauszufinden, warum die Sohle plötzlich schmerzt; so kann er den lästigen Eindringling entfernen.

In vielen Fällen aber läuft diese Warumfrage aber quasi hochtourig im Leerlauf. Sie wird in peinigender Monotonie wiederholt, ohne dass sich eine Antwort finden lässt. Verlassene Liebende fragen sich über Wochen uns Monate hin, warum ihr Partner sie nicht mehr begleitet. Nach einem Todesfall quält die Frage, warum dieser liebe Mensch sterben musste; angesichts einer Erkrankung – warum gerade ich?

Der therapeutische Rat in diesen Fällen läuft darauf hinaus, nicht mehr nach einer Antwort zu suchen, sondern sich klar zu machen, dass jede ohne derlei Grübelei verbrachte Stunde eine gewonnene Stunde ist.
Wenn biologische und kulturelle Evolution den Menschen mit der Fähigkeit zur Reflexion ausgerüstet haben, spricht das dafür, dass sie uns vorwiegend nützt – in der Bewältigung der äußeren Realität. Wenn sie damit gleichzeitig unsere Ängste vervielfacht hat, nimmt die Natur das in Kauf. Unsere Psyche ist nicht konstruiert, um uns Wohlgefühle zu verschaffen; sie soll das Überleben der Art sichern.

Wo es freilich besonders wichtig ist, dass Menschen aktiv bleiben, steuert die Psyche unser Erleben mit zwei Systemen: sie bietet Lust und droht mit Unlust. Das gilt für den Hunger und für die Liebe: Mangelgefühle treiben uns an, sie zu suchen. Sobald wir aber den Mangel beheben; verschwindet er nicht nur; es belohnt uns auch die Lust.

Aber auch hier wollen die Menschen wissen, warum das so ist. Warum sehnen wir uns nach Liebe? Warum haben wir Hunger? Die Wissenschaft ist da weniger drängend; sie untersucht, wie die entsprechenden Erlebnisse zustande kommen, verbindet den Hunger mit einem Mangel an Energieträgern im Blut und hat für die Liebe eine lange Reihe von Botenstoffen entdeckt, ohne deren Zutun die Sache manchmal nicht funktioniert.

Ach, immer diese Entscheidungen!

Erschienen in: Stuttgarter Zeitung

Wer sich über die Qual der Wahl erregt oder gar unter ihr leidet, mag ein wenig Trost darin finden, dass es ihm gut geht. Not duldet kein Zögern. Das zeigt schon das Urbeispiel der Wahl-Qual,  Buridans Esel. Die Denkfigur soll erläutern, dass es nicht möglich ist, eine logische Lösung zu finden, wenn wir zwischen zwei gleichwertigen Möglichkeiten wählen müssen. Ein Esel steht zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen. Er verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er zuerst fressen soll.

Dem Esel, muss man sagen, geht es zu gut. Die Qual der Wahl ist hier wie oft ein Luxusproblem. Unsere Emotionen sind auf das Leben in der Kultur der Jäger und Sammler zugeschnitten. Wer bei jeder Begegnung schnell herausfinden muss, ob er Beute machen oder zur Beute werden kann, quält sich nicht mit Entscheidungen. Er handelt und überlegt nachher (wenn er Glück hat), ob er richtig agiert hat.

Die Neigung, Situationen in zwei Hälften zu teilen, haben unsere Vorfahren in den Savannen erworben, in denen am Rand der Wälder der Affe zum Menschen wurde. Wenn ihnen ein Löwe begegnete, gab es eine klare Entscheidung: Alles war gut, was die Entfernung zur Gefahr vergrößerte. Schlecht war das Gegenteil. War es eine Antilope oder ein Baum mit reifen Nüssen, lag die Sache umgekehrt: Ja war alles, was sie der Beute näher brachte, nein war alles, was sie entfernte.

Unser Leben ist nicht so einfach, hart und gefährlich geblieben. Zur Kulturentwicklung gehört das Erstarken der Angst auf Kosten des Hungers. Der Steinzeitmensch erwacht und hat Hunger. Der Stadtmensch erwacht und hat Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen.

Glücklich die Menschen, die ihre Entscheidungen auch nachträglich gut finden. Ihre Zahl schwindet, je mehr entschieden werden muss. Wenn ich ein Schnäppchen gemacht habe, tue ich gut daran, eine Weile meine Augen vor Sonderangeboten zu verschließen: ich könnte ein besseres finden, Ärger nagt, die Unsicherheit wächst, ob ich meinen Entscheidungsaufgaben noch gewachsen bin. Und wer kennt nicht die Tischnachbarin, die nach langem Brüten über der Speisekarte endlich entschieden das Steak bestellt und nach dem zweiten Bissen mit Grabesstimme sagt: Ach, der Fisch wäre das Richtige gewesen!

Die Ängste der dritten Generation

Dieses Interview erschien 2010 in der Zeitschrift NEON; es basiert auf dem Buch „Ein Land – Drei Generationen. Psychogramm der Bundesrepublik“, erschienen im Herder-Verlag 2009

Sie nennen die jungen Erwachsenen von heute »Generation Angst«. Was meinen Sie damit?
Ich arbeite seit mehr als dreißig Jahren als Psychoanalytiker – und stelle fest, dass die Menschen in dieser Zeit sehr viel ängstlicher geworden sind. In früheren Therapiegruppen etwa waren die Leute viel unangepasster; haben Aggressionen geäußert, sexuelle Beziehungen miteinander angefangen. Heute sind sie sehr viel vorsichtiger, haben Angst, jemanden zu kränken oder von den anderen Teilnehmern gemobbt zu werden. Die Kränkbarkeit nimmt unglaublich zu – bis hin zu klinisch relevanten Ängsten.

Was für Ängste sind das?

Vor allem soziale Ängste: vor festen Beziehungen, vor Nähe, vor Festlegung. Ich erlebe viele Leute, denen der Partner, den sie haben können, nicht gut genug ist, und die sich stattdessen nach einem unerreichbaren sehnen. Es gibt immer mehr junge Männer, die noch nie eine Beziehung hatten. Oder, auch ein klassischer Fall: ein Patient, dessen Freundin ein Kind wollte, erzählte mir, was er deswegen alles für Ängste hatte; eine ganze Liste von Unsicherheiten und Störungen, die er an sich selbst beobachtet hatte. Er habe eine empfindliche Haut und bekomme leicht Sonnenbrand, und all das würde das Kind auch bekommen, und überhaupt sei die Beziehung nicht perfekt, und mit dem Kind würde alles noch schlimmer werden. Die Angst hat wie ein Radar alles nach Gefahren abgesucht, und ihn regelrecht gelähmt.

Woher kommen diese Ängste?
Im Grunde ist Angst ja etwas Lebenswichtiges; wer keine hat, ist gefährdet. Nun haben sich aber dadurch, dass die Gesellschaft so kompliziert geworden ist, auch die Ängste vervielfacht. Alles, was ich habe, verschafft mir ja zunächst Sicherheit, und dadurch stellt sich ein Niveau des Lebens her, auf dem ich mich geborgen fühle. Je mehr wir haben, desto mehr können wir verlieren; desto mehr weiten sich die Grenzen aus, die wir bewachen müssen – und desto mehr fürchten wir, es könnte etwas passieren, was unser hoch elaboriertes Lebenskartenhaus zusammenstürzen lässt.

Rilke, Krankheit und Dichtung

Wir sind ins Leben gesetzt, als in das Element, dem wir am meisten entsprechen, und wir sind überdies durch jahrtausendelange Anpassung diesem Leben so ähnlich geworden, daß wir, wenn wir stille halten, durch ein glückliches Mimikry von allem, was uns umgibt, kaum zu unterscheiden sind. Wir haben keinen Grund, gegen unsere Welt Mißtrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind Gefahren da, so müssen wir versuchen, sie zu lieben.

Psychologische Diagnosen gleichen Musikinstrumenten. Sie engen eine Vielfalt von Möglichkeiten ein, um praktische Vorteile zu gewinnen und eine sonst nicht greifbare Vielfalt handhabbar zu machen. Sie lehren uns etwas über die Vielfalt der Psyche, indem sie diese reduzieren, wie auch ein Instrument die Vielfalt der akustischen Möglichkeiten reduziert, uns gleichzeitig aber den Geist der Musik näher bringen kann – vorausgesetzt, wir wissen es zu spielen.

Wer von einer Hysterie oder einer Depression spricht, engt die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten ein, um eine Person den vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten zuzurüsten. Die meisten anderen Verwendungen sind voreilig und gefährden den Sinn des Ganzen, etwa die Hysterie-„Diagnose“ angesichts einer Ehefrau oder Mitarbeiterin, deren Gefühlsausdruck dem Ehemann oder Vorgesetzten „übertrieben“ erscheint. Auf diesem Weg hat der Hysteriebegriff so an Trennschärfe verloren, dass er in den neueren Manuals durch den Begriff einer histrionischen Störung ersetzt wurde.

Wer mit den begrifflichen Werkzeugen der psychiatrischen Diagnose nach Erklärungen sucht, sollte zunächst einmal die Problematik diagnostischer Systeme in der Nervenheilkunde bedenken. Da nur wenige der im Sprachgebrauch „nervös“ genannten Störungen naturwissenschaftlich belegte Substrate (von der Art des Tuberkel-Bazillus bei der Tuberkulose) haben, lässt sich hier Willkür nur schwer begrenzen. Es gibt Berichte, wonach sich die Zahl der Schizophrenie-Diagnosen in einer psychiatrischen Klinik nach dem Wechsel des Chefarztes halbiert oder verdoppelt hat. Dokumentiert ist auch, wie sich nach einem solchen Wechsel der Klinikleitung die Symptome selbst veränderten und einst sehr ernst genommene Krankheitsbilder buchstäblich verschwanden.

Statt einen Zugang zu erleichtern und das Verständnis für die künstlerische Produktivität zu vertiefen, erklären pathographische Modelle wie die von Lange-Eichbaum wenig bis nichts von der Persönlichkeit eines Dichters und vergrößern eigentlich nur das Rätsel, weshalb ein derart in seiner Pathologie gesehener, womöglich auf sie reduzierter Mensch Texte von solcher Kraft schaffen konnte. (…)

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Amok im Alltag

Am letzten Tag ihres Kurzurlaubs mit ihren zwei schulpflichtigen Töchtern auf einem Reiterhof bei Murnau fuhr die 47jährige Ärztin Dagmar O. auf einem schmalen, zugeparkten Weg von St. Alban am Ammersee in Richtung Riederau. Sie musste anhalten, weil sich vor ihr ein Ehepaar mit Hund ins Auto zwängte. Ein Radler auf einem Montainbike quetschte sich zwischen den Fahrzeugen durch, beschädigte den Außenspiegel an ihrem Wagen und fuhr weiter.

Dagmar O. schrie ihm nach. Der Radler zeigte ihr den Stinkefinger. Ein Passant sagte: „Fahren Sie ihm nach, den kriegen Sie noch.“ Dagmar O. wendete und verfolgte den Radler über fast zwei Kilometer. Auf einem Schotterweg rammte sie ihn und überfuhr den Gestürzten. Der 40jährige Ingenieur Michael S. blieb schwer verletzt, bewusstlos und mit mehreren Knochenbrüchen liegen. Er kann sich nicht an das Geschehen erinnern und weiß nicht, ob er es war, der das Auto seiner Verfolgerin beschädigt hat.
Vielleicht hat mich diese Geschichte beschäftigt, weil ich den Ort des Geschehens gut kenne – ich selbst habe mich schon oft auf dem Rad durch diesen an heissen Sommertagen zugeparkten Seeweg geschlängelt und die radfahrertypischen Hassgefühle gegen die Blechkisten mehr oder weniger gut verdrängt.

Weit wichtiger als diesen Aspekt finde ich aber den Verlust von Proportionen und die hier schlagartig an die Oberfläche tretende Rachsucht bei einer Frau, die in einem helfenden Beruf arbeitet und deren Tochter jüngst anläßlich der gerichtlichen Aufarbeitung dieses Geschehens fassungslos sagte: „Mama, warum hast du das gemacht, du bist doch Ärztin?“ Dagmar O.s Ehe war schief gegangen; der Verteidiger suchte mit Hilfe eines Gutachters das Gericht zu überzeugen, dass seine Mandantin in dem Radler eigentlich ihren untreuen Ehemann zur Strecke bringen wollte. Als ob das eine Entschuldigung wäre.

Ich meine schon öfters bei Helfern beobachtet zu haben, dass ihr Vertrauen in den Rechtsstaat wackelig ist und ihre Einfühlung aussetzt, wenn sie die narzisstische Verwöhnung gefährdet sehen, die ihre berufliche Rolle auszeichnet. An kaum einem Ort wird so destruktiv gestritten, soviel gemobbt wie in Krankenhäusern. So wundert es mich eigentlich nicht, dass es eine Ärztin war, keine Geschäftsfrau, welche den Schaden an ihrem Außenspiegel durch eine (selbst)mörderische Aktion rächte.

Empathie, ersehnt und überschätzt

Dem Mythos von der emotionalen Intelligenz folgt die Sage über das empathische Gehirn

Je weiter Spezialistenwissen unsere Welt in immer kleinere Teile auflöst, desto stärker wächst das Bedürfnis nach Vereinfachung. Der Wunsch nach Synthese führt uns zur Konzentration auf den Event, der alle Aufmerksamkeit bündelt und die Vielfalt ordnet. Er lässt uns nach psychologischen Begriffen suchen, die eine neue und gute Einheit unter den Menschen versprechen. Nach der „emotionalen Intelligenz“ und dem „positiven Denken“ – beides für den kritischen Forscher Widersprüche in sich – gerät gegenwärtig die Empathie in Mode.

Die Suche nach einem Verständnis dieser Faszination führt zurück in das 19. Jahrhundert. Sie fordert sich mit jenen Prozessen zu beschäftigen, die heute in der Soziologie unter „Individualisierung“ der zugleich auch ein Prozess der Verstädterung ist. Wer in die eigene Familiengeschichte zurück blickt, entdeckt immer auch in ihr Spuren jenes Prozesses, der in den Jahren von 1850 bis 1950 in den meisten europäischen Ländern dazu führte, dass eine anfangs zu 80 Prozent in Dorfgemeinden lebende Bevölkerung mehrheitlich in die Städte zog. Sie erlernte neue Berufe, strebte nach Selbstverwirklichung.

Die Denker, welche diesen Prozess begleitet haben, haben seine Gefahren wie seine Chancen ins Grundsätzliche formuliert: Nietzsche sah das radikal nach Selbstverwirklichung strebende Individuum als Bestie, die unerschrocken über zertrümmerten Götterbildern ihren Weg sucht. Schopenhauer hat demgegenüber die Substanz der Kräfte, welche die Menschen verbinden, im Mitleid gesucht. Der einzige Grund, uneigennützig zu handeln, ist nach ihm die Erkenntnis des Eigenen im Anderen. Der vom blinden Lebenswillen getriebene Mensch erkennt, dass in allen anderen Lebewesen derselbe blinde Wille haust und sie ebenso leiden lässt wie ihn. Durch das Mitleid wird die Selbstsucht überwunden, der Mensch identifiziert sich mit dem Anderen durch die Einsicht in das Leiden der Welt. Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst. Ist für Schopenhauer das Prinzip aller Moral.

Nietzsche widerspricht Schopenhauer und konstruiert einen Gegensatz von Herren- und Sklavenmoral. Herrenmoral sei die Haltung jener, die zu sich selbst und ihrem Leben Ja sagen könnten. Sklavenmoral werte ihr Gegenüber, die Herrschenden, Glücklichen, Ja-Sagenden  als böse und mache sich selbst zu deren gutem Gegensatz. Das Christentum habe die Sklavenmoral zum Teil hervorgerufen, in jedem Fall aber begünstigt und sie dadurch zur herrschenden Moral gemacht.