Während ich noch überlege, wie viel menschenfreundlicher und diktaturfeindlicher jene Zeiten waren, in denen die menschliche Stimme nicht elektrisch verstärkt werden konnte, überwuchtet wie ein Donnerschlag das Allahu Akbar des Muezzin-Megaphons die Diskotheken nebenan und die Show eine Brücke weiter. Die frommen Tröten sind bis zur Schreck- und Schmerzgrenze hoch geregelt. Sie beschränken sich nicht auf einen kurzen Ruf, der die Gläubigen zur Versammlung in Andacht mahnt, sondern triumphieren über die wehrlosen Ohren der Stadt. Die Musik in den Diskotheken verstummt wie ein Gespräch im Garten, über dem ein Jet zur Landung ansetzt.
Dann bleiben wir drei faule Tage in Yakakent am schwarzen Meer, die einzigen ausländischen Touristen in einem Badeort, der von den Zweitwohnungsbesitzern geprägt ist, die in einem der vier- bis sechsstöckigen, erdbebensicheren und hässlichen Apartmenthäusern ihren Traum vom Urlaub am Meer in Zement gegossen haben.
Wir kommen ins Gespräch mit der Besitzerin des Aile-Restaurants an der Strandpromenade, die aus Interesse deutsch gelernt hat, aber nie in Deutschland leben möchte, weil sie dort bei einem Besuch an eine Hauswand „Ausländer raus!“ gesprayt sah. Aile ist Familie, alles was diesen Namen hat, erklärt sie uns, ist preisgünstig, im Jahr kommen vielleicht zwanzig deutsche Touristen nach Yakakent. Sie sieht viel fern, um ihre Sprachkenntnis nicht zu verlieren; ihre Älteste studiert Archäologie in Istanbul. Geboren ist sie in Sinop, sie hat blonde Locken, eine gerade Nase, könnte in jedem Sandalenfilm eine Griechin der Antike spielen. Wir essen Teigtaschen in einer nach Zitronen schmeckenden Joghurtsoße.
Das Yakakent Otel hat wenige Gäste. Ein Paar sitzt unter einem Pavillon am Strand. Der Mann lädt ein, uns dazu zu setzen. Er hat vier Bierdosen vor sich stehen und schenkt sich gerade ein. Eine jüngere Frau im eng geknoteten Kopftuch trinkt Tee und lässt ihn nicht aus den Augen. Er kommt aus Deutschland, sie ist seine Braut, sie haben letzte Woche geheiratet, er hätte sich nie vorstellen können, eine Frau mit Kopftuch zu heiraten, aber er muss das hinnehmen, so wie sie es hinnehmen muss, dass er Bier trinkt. Er hat einen deutschen Pass, arbeitet in der Metallindustrie, Qualitätskontrolle. Er ärgert sich, dass das deutsche Konsulat so lange braucht, um seiner Frau die Einreisepapiere auszustellen: so muss er sie nach seinem Urlaub zurücklassen. Ist das gerecht?
Sie hat in Istanbul gearbeitet, in einer Schneiderei. In Deutschland muss sie erst einmal nicht arbeiten, sondern die Sprache lernen. Sie übt schon, versteht Einiges, ist aber zu scheu, um selbst zu reden. „Ihr seid keine Malocher“, sagt Ali – wir haben uns alle mit Vornamen begrüßt. „Ihr seid etwas anderes, Ärzte, Anwälte!“ Wir nicken und schon kommt eine Frage an die Experten: Wer mehr zum Gelingen einer Ehe beiträgt, die Frau oder der Mann? „Beide gleich, jeder 50 Prozent!“ „Das sagt meine Frau auch“, meint Ali. „Aber ich bin sicher: es ist die Frau. Die Frau macht die Ehe gut oder schlecht. Der Mann kann nichts machen, er ist schwach!“ Ali ist geschieden.
Wer von Norden kommt, kann Ankara meiden und trifft gleich auf den Flughafen. Wir sind viel zu früh da, warten auf den Mann, der uns den Leihwagen wieder abnimmt und setzen uns in eine Wiese neben einem Parkplatz. Reisebusse kommen und holen Gäste ab. Manche lassen den Motor laufen, Dieselgestank weht herüber. Der Flughafen wirkt viel zu groß für die Zahl der Passagiere. Unser Vorsatz, möglichst viel außerhalb der security zu trinken, ist überflüssig im Sinn des Wortes. Niemand sagt einen Ton gegen Wasserflaschen, die in Rucksäcken stecken.
Alles ist wieder glatt, jedes Loch im Pflaster verschlossen, das Glas Tee kostet den achtfachen Preis. Ich fange schon an, die Türkei zu vermissen.