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Die Macht der Religion (Teil 2)

Warum der Mensch sich Gott erschuf–(Fortsetzung von Teil 1)

In den drei Jahren nach 1930 – Hubbard ist 19 Jahre alt – behauptet der Gründervater von Scientology folgende Taten verrichtet zu haben: Er hat Ingenieurswesen sowie Atom- und Molekularphysik studiert, ist Drill-Sergeant bei den Marines geworden und hat dort eine preisgekrönte Kompanie aufgebaut, trat als Balladensänger auf, schrieb Hörspiel-Serien, war Landvermesser, lernte Segelfliegen, wurde einer der besten Piloten des Landes, sorgte dafür, dass zwölf gefährliche Flughäfen geschlossen wurden, stellte einen landesweiten Dauersegelflug- Rekord auf, vollendete die erste mineralogische Vermessung von Puerto Rico und erforschte Kulturen und Glaubensrichtungen dieser Gegend, einschließlich Voodoo und Spiritismus. Die erste sozusagen sichtbare Karriere dieses begabten, nach Grandiosität süchtigen Menschen passte zu seinen Persönlichkeitsproblemen wie der Schlüssel zum Schloss: Ron Hubbard wurde ein äußerst produktiver Autor von Kolportageromanen; hier hat eine gewisse Neigung zur Übertreibung schließlich noch nie geschadet. Hubbard erinnert in vielen Zügen an einen höchst erfolgreichen und ebenfalls von dubiosen Größenansprüchen geplagten Autor: Karl May. Zwei Eigenschaften Mays fallen bereits beim ersten Versuch auf, zu seiner Persönlichkeit vorzudringen: seine Neigung, Geschichten zu erfinden, deren Held er ist, und sein Interesse für Religion bis hin zu dem Versuch, selbst als Prophet eines neuen (oder erneuerten alten) Glaubens aufzutreten. Von anderen Geschichtenerfindern unterscheiden sich Karl May und Hubbard, weil sie nicht nur erzählen, sondern auch belehren wollen. Schließlich wird bei May der Text mächtiger als sein Autor. Das Belehrungsbedürfnis geht mit dem Schriftsteller durch, treibt ihn dazu, zu behaupten, er hätte alles selbst erlebt, alle Ehrennamen selbst erworben. Müssten wir Karl May in einem psychologischen Seminar analysieren, würden wir ihm die Diagnose einer Pseudologia phantastica im Dienste einer manischen Abwehr von Depressionen und Ängsten zuschreiben. Unfreundliche Menschen sprechen hier von Betrügern, freundliche von Dichtern oder Propheten; Psychologen von Personen, die aus einer Selbstgefühlsstörung heraus nicht anders können, als andere mit allen Mitteln glauben zu lassen, sie seien größer als sie sind. „Normale“ Lügner sind zufrieden, wenn sie sich ein Ziel erschwindelt haben; Pseudologen verwirren den soeben Überzeugten dadurch, dass sie noch eine zweite, eine dritte und vierte noch viel großartigere und darum unwahrscheinlichere Geschichte draufsetzen. Schließlich treten die Beteuerungen einer immer großartigeren Selbstdarstellung und die Skepsis der Hörer in eine Art Wettlauf, den der Pseudologe nur gewinnen kann, wenn er zum Propheten wird und eine Sekte stiftet. Der Pseudologe lebt in einer speziellen Welt, die sich von der Welt aller anderen Menschen durch eine Qualität unterscheidet, die sich provisorisch als schillernd, vielschichtig oder instabil beschreiben lässt. Obwohl in den konstruktivistischen Richtungen der Philosophie und Sozialforschung ohnehin belegt wurde, dass Menschen sich ihre Wirklichkeit immer neu so interpretieren, dass sie möglichst gut zu ihren Wünschen passt, unterscheidet sich der Pseudologe vom normalen Menschen, der etwas beschönigt oder verleugnet. Er ist sehr viel aktiver, seine Lügen sind nicht defensiv, sondern offensiv, er genießt es, wenn andere ihm etwas glauben, wovon er selbst genau weiß, dass es nicht stimmt.

Wenn du mir fremd bist, lieb ich dich

Die seelischen Probleme der interkulturellen Partnerschaft

Auf den ersten Blick wirkt das Fremde oft nah – als sei es nur einen Schritt weit entfernt. Erst wenn wir diesen Schritt getan haben, erkennen wir, wie fremd es wirklich ist und wieviel uns noch zur Verständigung fehlt. Als Student lebte ich für eine Weile als Aussteiger in der Toscana und glaubte, wenn ich erst einmal besser italienisch spräche, wäre ich ganz wie meine Nachbarn. Es waren sehr gastfreundliche Menschen, offen und herzlich, ich litt sehr unter meinem Haschen nach verständlichen Worten und meinem Gestammel. Und so lernte ich den toscanischen Dialekt so gut, dass man mir eines Tages in der Cassa di Risparmio einen Hundertmarkschein nicht wechseln wollte, weil ich schliesslich kein Konto bei dieser Bank hätte. Und merkwürdig: je besser ich mit den Nachbarn reden konnte, desto klarer wurde mir auch, dass sie in einer ganz anderen Welt lebten als ich. Ich fand heraus, dass manche Nachbarn selbst Fremde waren, Süditaliener, die es aus ihren noch armseligern Dörfern, von ihren winzigen, oft stundenlange Wege vom Haus entfernten Feldern in die Toscana verschlagen hatte. Dort standen damals viele Häuser leer, weil sich die Gartenlandwirtschaft dieser winzigen Gehöfte nicht mehr lohnte. Die eingesessenen Dörfler verachteten die marocchini (Marokkaner), wie sie die Leute aus dem Süden nannten. Diese wiederum sagten, es müsse mehr Italiener geben und weniger Toscaner. Ich aber hatte, statt in vino e amore aufzugehen, einen Konflikt am Hals, der mich an eine verschärfte Variante des Kampfes der (ländlichen) Bayern gegen die (städtischen) Saupreussen erinnerte, den ich als (halber) Dorfbub miterlebte. Zu den schönsten und gefährlichsten Zuständen im menschlichen Leben gehört die Verliebtheit. Die Beteiligten verschlingen einander mit den Augen und fühlen sich, als hätten sie sich schon in früheren Leben gekannt: „Ach, du warst in abgelebten Zeiten – meine Schwester oder meine Frau“, dichtete Goethe. Der Panzer schmilzt, den wir gegen die Pfeile des Schicksals angelegt haben, die Hornhaut wird weich, die uns im Umgang mit Eltern, Geschwistern, Kolleginnen und Kollegen gewachsen ist. Wo zwei eines werden, ist Rivalität vergessen; in geheimnisvoll-durchsichtiger Blase, wie auf den Gemälden von Hieronymus Bosch, reift das Paar. Da die Beteiligten glauben, einander ganz zu verstehen und buchstäblich zu verschmelzen, tun sie sich schwer mit jeder Wirklichkeit, welche den Zauberkreis verletzt, in den sie sich eingeschlossen haben. Gleichzeitig aber ist die Triebkraft ihrer Verbindung kreativ, ja explosiv. Das verliebte Paar kann beschliessen, gemeinsame Realitäten ausserhalb des Kreises zu schaffen: eine Wohnung zu kaufen, ein Geschäft zu eröffnen, eine Familie zu gründen. Oder aber es fällt unter eine Schwangerschaft wie unter die Räuber – etwas Drittes wächst plötzlich in dem magischen Kreis, sprengt ihn, lenkt den gefesselten Blick vom Gegenüber ab auf dieses Neue, das Kind. 2 Wenn ich Paare in jenen posttraumatischen Zuständen antreffe, die nach dem Zusammenbruch einer Verliebtheit aufzutreten pflegen, suche ich immer wieder nach Metaphern und nach Erinnerungen, um ihnen zu verdeutlichen, warum jetzt etwas so schrecklich geworden ist, was sich früher einmal köstlich anfühlte. Oft ist es traurig zu sehen, wie wenig sich diese Menschen überhaupt daran erinnern können, dass sie sich irgendwann sehr nahe waren.

German Angst?

Die Messehallen erinnerten an einen Ameisenhaufen. Kaum eine Ameise wusste von den Absichten und Zielen der anderen. Da rund 60 000 Neuerscheinungen vorzustellen waren, vermutete ich in vielen dieser Ameisen einen Autor wie mich selbst und stellte mir vor, er trüge „sein“ Buch bei sich, wie die rote Waldameise eine Fichtennadel in ihren Kiefern trägt, um die Ameisenburg höher zu bauen.

Jeder Reporter, der mir während meines Besuchs auf der Frankfurter Buchmesse über den Weg lief, wollte etwas über sie wissen: die German Angst. Und ich wollte dazu etwas sagen, schliesslich ging es darum, mein neues Buch über das „Lebensgefühl Angst“ vorzustellen. Sind wir Deutschen ein besonders ängstliches Volk? Handy gegen Trennungsangst Jeder ist jederzeit potenziell via Handy erreichbar – wer also muss noch Trennungsangst ertragen? Gegen Einbruch, Diebstahl, Krankheit, Unfall, Hagelschlag, Glasbruch, gegen die Explosion unseres Heizkessels, den prozesswütigen Nachbarn und den Verlust unserer Zahnprothese sind wir versichert. Laufen aber missmutiger durch die Strassen als die Armen im Jemen oder in Brasilien. Das drücken auch unsere Statistiken aus, nach denen hierzulande jeder zehnte Mensch zugibt, an mindestens unangenehmen, jeder zwanzigste an ernsthaft das Leben einschränkenden Ängsten leidet.

Aber das ist kein deutsches Problem. Dieselbe statistische Aussage gilt für die EU oder die USA. Vielleicht sollten wir erst einmal die Versuche kritisieren, Angst zur Krankheit zu machen und uns Tranquilizer als Gegengift zu verkaufen. Etwa 10 Prozent der erwachsenen Menschen in Deutschland schlucken Psychopharmaka. Frauen tun das dreimal häufiger als Männer. Mehr als die Hälfte der verordneten Psychopharmaka sind Mittel mit einer hohen Suchtpotenz, die eigentlich nicht länger als höchstens vier Wochen am Stück verordnet werden dürften. Es handelt sich um die sogenannten Benzodiazepine, die unter einigen Dutzend Warenzeichen (z.B. Valium, Tavor, Lexotanil) vertrieben werden und kurzfristig sowohl Ängste lösen wie Schlafstörungen beseitigen. Angst ist harmlos Angst ist an sich harmlos. Sie entstammt natürlichen Wurzeln, ist biologisch sinnvoll. Sie kann zwar nicht von einem Kind, aber von einem einsichtigen Erwachsenen bewältigt werden – vorausgesetzt, wir erleben sie bewusst, gestehen sie uns ein, nehmen sie als Teil unserer kreatürlichen Ausrüstung und geben ihr nicht mehr Macht, als ihr zusteht. Viele gefährlicher als die Angst ist die Illusion einer Welt die uns und anderen garantiert angstfreie Räume verheisst.

Demagogen, welche die menschliche Angstneigung ausnützen, haben schon immer versprochen, dass wir keine Angst mehr haben müssen, wenn wir sie dabei unterstützen, unsere gegenwärtigen Ängste in Gewalt umzusetzen und alle aus dem Weg räumen, auf die wir diese Ängste projizieren. Die Angst ist mächtiger und einflussreicher geworden, weil wir mehr und wirksamere Wege finden zu meinten, sie zu besiegen oder ihr zu entgehen. Früher hatten wir, um ein Beispiel zu nennen, dann Todesangst, wenn eine Ader platzte oder ein Knochen brach. Heute müssen wir zittern, wenn wir auf das Ergebnis einer Vorsorgeuntersuchung warten, die in wenigen Minuten subjektives Wohlbefindens in sein Gegenteil verwandeln kann.

Guter Rat ist billig

Als ich mich vor 26 Jahren scheiden lassen wollte, musste ich es irgendwann auch meiner Mutter sagen. Sie riet mir energisch ab ab. Wer heiratet, muss sich vorher überlegen, auf was er sich einlässt. Es geht nicht an, eine Ehe aufzulösen. „Du musst dich zusammennehmen und die Sache durchstehen!“ Als ob ich mir das nicht selbst schon hundertmal gesagt hätte! Es ging mir auf die Nerven. Ich hatte genug Probleme. Ein Psychologe soll sich nicht scheiden lassen. Wozu ist er Experte für die Lösung emotionaler Konflikte?
Schliesslich sagte ich gereizt: „Du hast ja keine Ahnung. Wie lange warst du eigentlich verheiratet? Wie lange hast du mit Vater zusammengelebt? Ich habe mehr Eheerfahrung als du, also rede mir nicht drein!“
Ihre Reaktion rechne ich ihr noch heute hoch an. Sie schwieg, überlegte, sagte dann nachdenklich: „Eigentlich hast du recht. Ich habe wirklich nicht viel Erfahrung damit.“ Meine Eltern haben 1938 geheiratet; 1939 wurde mein Vater eingezogen, 1944 ist er gefallen. Meine Mutter hat später nicht mehr geheiratet; sie behauptete, es habe sich kein passender Mann gefunden. Tatsächlich gab es nach dem Krieg viele Witwen und wenige Männer, die für eine geistig anspruchsvolle Frau mit zwei Söhnen genügend Aufmerksamkeit, Geduld und Ausdauer mitbrachten. Eine Witwe war Herrin über ihren Haushalt; eine verheiratete Frau damals nicht.
Wer sich beruflich damit beschäftigt, was alles in Beziehungen scheitern kann, kommt nicht darum herum, sich über die eigene Elternbeziehung Gedanken zu machen. Eine Gelegenheit dazu ist die Lehranalyse. Aber damals war ich jung und suchte in mir oft nach dem, was die Theorie erwarten liess. Heute glaube ich, dass ich am meisten aus dem ständigen Vergleich zwischen meiner eigenen Entwicklung und der jener Menschen gelernt habe, die sich mir anvertrauen. Je länger ich zuhörte und abwechselnd auf mich und auf andere schaute, desto besser konnte ich auf jene festen Vorstellungen über die richtige Beziehung und die gute Ehe verzichten, die mich an meiner Mutter empört hatten, von denen ich selbst aber auch alles andere als frei war. Wichtiger in Beziehungen wurde mir etwas ist wie ein freier Raum, in dem nicht Werte gesetzt, sondern Geschichten erzählt werden. Wir meinen viel zu oft, Gutes zu tun, wenn wir ein Gegenüber mit Werturteilen verproviantieren, meist ohne uns zu fragen, ob der Beratene nicht schon viele solche Meinungskonserven mit sich schleppt.
Die Reaktion meiner Mutter auf meinen Protest ist ein Beispiel für diese Offenheit. Ich hatte ihr die Sohnesrolle verweigert und mich als Erwachsener in die Brust geworfen. Sie überlegte vielleicht kurz, ob sie sich auch in die Brust werfen, auf ihrem höheren Alter beharren sollte. Dann liess sie es sein. Der Junge sollte auch einmal rechthaben. Sein Argument konnte stehen bleiben. Kinder sind selten so, wie sie sich ihre Eltern gewünscht haben – und Eltern ebensowenig so, wie sie sich Kinder wünschen. Aber die Menschheit würde aussterben, wenn wir die Illusion vollständig aufgeben müssten, dass doch etwas von dem, was uns kostbar ist, in unseren Kindern weiterlebt. Die schwindende Bereitschaft, Kinder zu bekommen, hängt sicher auch zum Teil damit zusammen, dass uns die Aussichtslosigkeit von Erwartungen, genau die richtigen Kinder zu haben, deutlicher geworden ist. So denkt der Vater, der sich Gymnasium und Studium erkämpfen musste, sein Sohn wäre glücklich und dankbar, wenn er ihm den Weg in eine akademische Laufbahn ebnet. Aber der Sohn zieht es vor, sich als Punk zu gebärden und nicht auf seine Noten, sondern seine Piercings stolz zu sein. Die Werte eines Aufsteigers und eines Punks sind unvereinbar.

Die dunkle Seite der Mutter

Angesichts der neun Babyskelette, die jetzt in Breskow-Finkenheerd gefunden wurden, gehört es schon fast zum guten Ton, nicht nur Abscheu, sondern absolutes Unverständnis zu bekunden. In solchen Situationen bemerken wir wieder, wie wichtig uns die Illusion von der guten Mutter ist und wie zäh wir an ihr festhalten. Es fällt uns sehr schwer, zu akzeptieren, dass Mutterschaft keine persönliche und moralische Leistung ist, sondern eher ein Geschenk günstiger innerer und äusserer Bedingungen.

In Wahrheit ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind wie alle hoch leidenschaftlichen und existenziellen Beziehungen ambivalent, das heisst aus Liebe und Hass gemischt. Viele Frauen sehnen sich leidenschaftlich nach einem Kind und tun (fast) alles, um schwanger zu werden. Aber wenn Mütter offen sprechen können, wenn das Gute nicht erzwungen, sondern gefördert werden soll, dann erzählen sie uns doch recht genau, wie oft sie ihr armes, hilfloses Baby am liebsten gegen die Wand klatschen würden. Wieder einmal, wie angesichts anderer psychologischen (Pseudo)Rätsel auch, sollten wir uns nicht über schreckliche Taten entsetzen, sondern mit Respekt zur Kenntnis nehmen, wie mächtig doch die Gegenkräfte in den meisten Menschen wirken, die im grossen Ganzen zuverlässig verhindern, dass aus phantasierten Gewalt-, Amok- und Terrortaten Wirklichkeit wird. Selbst unsere näheren Verwandten im Reich der Säuger, die Affen, müssen Mutterliebe lernen.
So hat der amerikanische Zoologe Harry Harlow nachgewiesen, dass ohne ausreichende Zuwendung von Artgenossen aufgezogene Rhesusaffen miserable Mütter werden, die ihre Babys unzureichend versorgen, sie tragen, als seien sie ein Stück Holz. Die Babys dieser traumatisierten Mütter hätten oft nicht überlebt. Das geschah nur, weil die Pfleger eingriffen. Wenn wir nach den Grundlagen der gelingenden Mutterschaft forschen, finden wir nirgends eine isolierte, mit einem Kind allein gelassene Frau. Wir finden eine Gruppe, Frauen und Männer, die sich fürsorglich um das Neugeborene organisieren und es begrüssen. In allen Primitivkulturen wandern die Säuglinge von Arm zu Arm. Eine Mutter hat nur in absoluten Ausnahme- und Notsituationen zu bewältigen, was heute vielfach „normal“ ist: unter Einzelhaftbedingungen Tag und Nacht für ein Baby zuständig zu sein, das sie versorgen muss, weil sie sich das schliesslich selbst eingebrockt hat. Nur wer sich selbst ein Leben lang emotional von Kindern ferngehalten hat oder aber ein unerschütterlicher Gutmensch ist, wird nicht verstehen, dass unter solchen Bedingungen nicht die Liebe wächst, sondern Hass und Wut zu kurzschlüssigen „Befreiungstaten“ führen können.

Der Fall aus Brandenburg wirkt besonders dramatisch und widersprüchlich, weil die Mutter vier Kinder leben liess und versorgte, neun andere aber nach der Geburt verscharrte. Aber wer die Geschichte kennt und sich jemals mit primitiven Kulturen beschäftigt hat, findet das weit weniger bemerkenswert. In den Gesellschaften der Jäger und Sammler, auf die unsere Erbanlagen zugeschnitten sind, würde einer solchen Mutter nichts geschehen. Es wäre ihre Sache, ob sie ein Kind überleben oder sterben lässt. Im Rom der Antike wurde das Neugeborene vor den Vater gelegt. Hob er es auf, genoss es den Schutz der Familie. Liess er es liegen, wurde es in den Wald gebracht und allein gelassen; so gab es später keinen Täter, an dem sich die Seele hätte rächen können. Das Schwinden der Grossfamilie mag unser Sexualleben aus der drückenden Kontrolle einer erweiterten Verwandtschaft befreit haben. Aber es hat auch dazu geführt, dass nicht mehr eine einfühlende, erfahrene Frauengruppe – keine einzelne Frau! -das Baby betreut. Zwei Partner tun es, hinter denen ein von Männern gemachtes Gesetz steht. Das liebende Paar ist jedoch ein anspruchsvolles und gar nicht selten höchst instabiles Milieu. In Wunschträumen festigen Kinder die Ehe; in der Realität treiben Geburten die Scheidungsziffern auf ihren frühen Höhepunkt.

Das Zwischenlager

Kennen sie die Menschen des Zwischenlagers? Sie sind ständig damit beschäftigt, zu suchen was sie eben nur schnell irgendwohin gelegt haben. Ihren Arbeitstisch zieren große Stöße von Vorgängen, die sie alle irgendwann erledigen wollen. Wenn es gar nicht mehr anders geht und sie endlich den Bürokram erledigen wollen, fangen sie an umzuschichten. Schließlich müssen sie das Wichtigste herausfiltern, anderes kann ja noch warten, hat sich vielleicht sogar von selbst erledigt. Sie wiegen die Blätter bedächtig in der Hand, lesen ein Stück, entscheiden sich dann doch, lieber etwas anderes, wichtigeres zu machen. Zeit ist knapp, denn die Stunden im Zwischenlager fehlen.
Diese Zwischenlager wachsen wie Schimmelpilze an den Grenzen von Arbeit und Freizeit. Sie gedeihen dort, wo etwas erledigt werden müsste, aber warten kann, wo etwas Spaß machen könnte, aber augenblicklich noch nicht dran ist: das Video aus dem Sonderangebot, die Zeitung vom Wochenende, die ich leider wegen des Ausflugs nicht lesen konnte. Der Vater einer Freundin arbeitete sich in dem Jahr, in dem er starb, durch eine Zeitung von vor mehr als einem Jahr; er war irgendwann nicht mehr nachgekommen, die Augen waren nicht mehr so gut, aber er wollte keine Ausgabe versäumen. Fast die beliebtesten Dinge im Zwischenlager des Gebildeten sind Zeitungsausschnitte (das muss irgendwann gründlich gelesen werden!), Zeitschriften (schließlich muss man im Beruf auf dem Laufenden bleiben) und vor allem Bücher. Das ist ein interessantes Thema, ein wichtiger Autor. Weil ich so müde war, bin ich diesmal nicht über drei Seiten hinausgekommen, aber im Urlaub, in der Rente finde ich mal so richtig Zeit zum lesen. Ein anderes Zwischenlager ist der Zettel, auf dem steht, dass etwas getan werden muss; diese Zettel nach Wichtigkeit zu ordnen, kostet Zeit, in der sich schon einige der aufgeschriebenen Aufgaben tatsächlich hätten erledigen lassen. Ein nur ein klein wenig zwanghafter Kollege verbringt Stunden damit, Listen von Arbeiten anzulegen, die er erledigen muss, die Eintragungen zu ordnen, Erledigtes, vor allem aber sich zu grämen und schuldig zu fühlen, dass er nie bis zur ebenfalls schriftlichen Deadline schafft, was er aufgeschrieben hat – vermutlich fehlt ihm einfach die Zeit, die ihn seine Liste kostet.
Ähnlich können sich viele Menschen nicht entscheiden, ob sie die Kränkung durch ihren Partner zum Thema machen oder ignorieren wollen, weil sie nicht wichtig genug ist. Sie sammeln diese Kleinigkeiten in einem Zwischenlager, das sie bei passender Gelegenheit öffnen. Auf diese Weise kann eine kleine Kränkung, die zufällig nicht mehr in dieses Zwischenlager gepasst hat, zu einem großen Drama und zu massiven Entwertungsgefühlen führen. Beide „Zwischenlager“ können aufeinander prallen; das Beispiel ist nicht aus der Luft gegriffen.
Carla, eine Anwältin, hat lange Jahre mit ihrem Mann Joseph eine Wochenendehe geführt. Joseph ist Universitätslehrer und hatte einen Ruf in eine andere Stadt erhalten, wo er eine kleine Wohnung bezog. Er hat sich auf jede freie Stelle in seinem Fach zurückbeworben, bisher aber nichts bekommen. Carla merkt erst, wie sie jedes Mal erleichtert war, wenn Joseph doch weiter pendelte, als Joseph schließlich doch Erfolg hat und sich darauf freut, dass sie jetzt wieder eine richtige Ehe führen können. Denn Joseph ist ein Mensch des Zwischenlagers, und Carla ärgert sich jedes Mal, wenn er wieder etwas herumliegen lässt, Verlegtes nicht findet und schreit, ob sie nicht beim Suchen helfen kann.

Die RAF, die Gnade und das Helfer-Syndrom

Auge um Auge, Zahn um Zahn, Gnade um Gnade – an diese archaische Formel fühlte sich erinnert, wer angesichts der Debatte im Jahr 2007 um die Begnadigung der RAF-Terroristen wiederholt (in der Bildzeitung, im Spiegel und bei Sabine Christiansen) dem Titel „Gnade für Gnadenlose?“ begegnete. Diese Formel hat mich zuerst verwirrt und dann empört. Denn Gnade ist keineswegs in einem Atem mit gerechter Strafe oder besser ausgewogener Rache zu denken, wie es solche Formulierungen nahelegen. Sie ist das Gegenteil von Rache und von Strafe. Wer fordert, dass die Gnadenlosigkeit eines Täters gegen die Gnade aufgerechnet wird, welche ihm gewährt wird, verrät nur, dass er von Gnade nichts verstanden hat. Er sollte lieber direkt sagen, dass er Rache für gut und Gnade für weichlich hält. Er macht aus Gnade, die von ihrer ganzen Bedeutung her ein Geschenk, eine freiwillige Gabe ist, einen Rechenpfennig, ein Tauschobjekt, das die Würdigen bekommen und die Unwürdigen nicht. Gnade ist in seinen Augen etwas wie eine Nachlässigkeit in der Buchführung, wie Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern eines Verbrechens, gar wie Parteinahme für Bösewichte. Aber Gnade ist nichts davon.

Gnade dem Gnadenlosen

Sinnvoller und genauer beim Thema wäre eine andere Formulierung: Wem überhaupt Gnade, wenn nicht dem Gnadenlosen? Wo Gnade ist, wird nicht aufgerechnet, vergisst Justitia ihre Prinzipien. Sie lässt, wie die Redensart sagt, Gnade vor Recht ergehen. 1977 war für mich ein wichtiges Jahr, aus sehr selbstbezogenen Motiven. Damals war mein Buch „Die hilflosen Helfer“ erschienen, in dem ich über eine seelische Dynamik berichtete, welche zeitgleich im Terrorismus explodiert war. Ich hatte nicht vorgehabt, mich als Psychoanalytiker mit Terror zu beschäftigen, das geschah erst sehr viel später. Aber die verborgene Thematik des Terrors und des Helfer-Syndroms sind verwandt. In beiden Fällen geht es darum, dass idealistische Motive destruktiv werden, weil sie den Kontakt zu Einfühlung und Gegenseitigkeit verlieren. Ich hatte beobachtet, dass sich viele Helfer nicht an der Realität ihrer Schützlinge orientieren und professionell arbeiten, sondern sich in eigenen Idealvorstellungen gehen lassen und dadurch Gefahr laufen, den Kontakt mit der Realität einzubüssen, sich selbst und andere zu schädigen. Ich beschrieb die Helfer-Rolle als narzisstische Verführung, als seelische Gefährdung in dem Sinn, dass auf diese Rolle eingeengte Helfer ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse ebenso verleugnen wie sie versäumen, die Stärken ihrer Schützlinge zu fördern. Es ist ihnen wichtig, möglichst viele Menschen als abhängig, als Ziel von Belehrung, von Hilfe anzusehen; nur in dieser Rolle fühlen sie sich wohl. Die meisten dieser Gesichtspunkte lassen sich auf die RAF-Aktivisten übertragen. Ich konstruierte die Dynamik des Helfer-Syndroms als Identifizierung mit einem übersteigerten Idealbild. Solche erlebnisprägenden Idealbilder, so meine These, würden von den hilflosen Helfern gerade nicht aus einer Begegnung mit realen Vorbildern, etwa mit liebevollen und ihnen zugewandten Eltern gewonnen, sondern aus Erfahrungen, abgelehnt, verlassen, gekränkt worden zu sein, in denen sie Phantasien von einem mächtigen und perfekten Ego entwickelt hätten, die ihnen dann als Vorlage für eine Identifizierung dienten – gemäss dem Sprichwort: „Weil mich keiner pflegt, werde ich Krankenschwester!

Die Ideale der 68er

Ich vermute heute, dass meine Argumente etwas vom Geist der damaligen Zeit trafen. Viele der von den 68ern geprägten Menschen begannen, sich kritisch mit den Idealen ihrer Adoleszenz auseinanderzusetzen. Die winzige Minderheit der RAF-Aktivisten hingegen übersteigerte die Ideale der Bewegung defensiv. Sie konstruierte sich das Feindbild des faschistischen Staates, sah in Polizisten SS-Leute, in hochrangigen Zivilisten Organisatoren neuer Völkermorde. Daraus leitete die RAF das Recht auf bewaffneten Kampf – auf Mord und Raub – gegen ein System ab, das die meisten Bürger für einen Rechtsstaat hielten und das sich im grossen Ganzen auch als solcher bewährte. Mein Buch hatte sich überraschend zum Bestseller entwickelt, was dazu führte, dass ich viel in Deutschland, Österreich und der Schweiz reisen musste. Obendrein hatte mein dreijähriger Sohn 1976 in der Toscana meine Brieftasche mit Geld und allen Papieren aus dem Fenster geworfen (wir fanden sie Jahre später verwittert in einem Brombeerdickicht). Ich war überzeugt, man hätte mir die Tasche unbemerkt entwendet. So meldete ich Ausweis und Führerschein als gestohlen und beantragte neue Dokumente. Daher hatte in dem Jahr 1977 angesichts der Schleyer-Entführung die Rasterfahndung mehr als ein Auge auf mich. Ich wurde überprüft, durchsucht, hatte an jeder Grenze lange zu warten. Ich verstand zuerst nicht, was gegen mich vorlag, bis mich Freunde aufklärten. Ich ärgerte mich über diese Aufregung der Behörden insgeheim und blieb nach aussen höflich und kooperativ. Ob mich die Beamten wirklich im Verdacht hatten, weiss ich nicht. Jedenfalls hat der Staat auch mich korrekt behandelt und kein Gesetz gebrochen, so wenig wie ich selbst. Meine zornigen Gefühle, verbunden mit einer ihnen widersprechenden Praxis der De-Eskalation sind mir haften geblieben. Ich erinnere mich auch, dass ich mich damals über beide Seiten ärgerte, denen ich die Schuld zuschrieb, dass ich so belästigt wurde.

Zwei Fronten, keine Seite

Ich konnte die Aktiven der RAF nicht leiden, die dem verabscheuenswürdigen Prinzip folgten, dass der Zweck die Mittel heiligt. Und ich konnte die Staatsmacht nicht leiden, die derart überreagierte, aber nicht aufhören konnte, bei jeder Gelegenheit zu betonen, man habe es nicht mit verrückten Idealisten, sondern mit ganz gewöhnlichen Verbrechern zu tun. „Ganz gewöhnliche Verbrecher?“ Terroristen sind das nicht, aber es ist gut und sinnvoll, sie so zu behandeln. Nur so kann sich der Rechtsstaat vor seinen Neigungen zum Gegenterrorismus bewahren. Es bedarf geistiger Anstrengung und einer festen Überzeugung, dass es in jedem Menschen Gutes und Böses gibt, um angesichts von Terrortaten ruhig zu bleiben und für eine Deeskalation zu sorgen. Terroristen sind idealistische Mörder, wahnsinnige Mosaike aus Kriminalität und Prinzipienreiterei. Wenn die politische Rhetorik das ignoriert, während die staatliche Aktion nach allen Richtungen überschiesst, dann gewinnen sie viel zuviel Aufmerksamkeit für ihr böses Theater. Ich habe mir immer gewünscht, dass der Rechtsstaat auf den Terror souveräner und würdevoller reagiert hätte, als er das getan hat. Das hat sich von der RAF bis al-Quaida nicht geändert. Immerhin, gemessen an der Überreaktion von Präsident Bush, war der deutsche Aktionismus von 1977 mässig, vernünftig und schliesslich auch erfolgreich. Es ist ihm zumindest teilweise gelungen, aus Terroristen gewöhnliche Verbrecher zu machen.

Gnade für gewöhnliche Verbrecher

Kriminelle sind Menschen, denen ein Stück Nachdenklichkeit und Einfühlung fehlt, mit denen brave Bürger wie ich die eigenen kriminellen Neigungen balanzieren können. Wenn immer beschworen wurde, Bankräuber wie Bankräuber und Mörder wie Mörder zu behandeln, dann sollte ihnen auch jetzt niemand dieses bescheidene und verdiente Stück Gewöhnlichkeit absprechen. Sie verdienen Gnade, eben wie gewöhnliche Verbrecher. Es gibt wunderliche Zufälle, die sich als Fügung aufdrängen, ohne dass ich daraus eine Macht ableiten würde, welche sich um die Inszenierung solcher Ereignisse bemüht. Als ich an dem Helfer-Buch schrieb, lernte ich Angelika Holderberg kennen, die damals als Sozialpädagogin arbeitete und später analytische Therapeutin für Kinder und Jugendliche wurde. Ich habe sogar einen Teil ihrer Geschichte in dem Buch verwertet und freute mich nun sehr, angesichts der Debatte über die Begnadigung der RAF-Häftlinge einen Artikel von ihr zu lesen. Angelika hatte sich mit einer Initiativgruppe von analytischen Therapeuten über sieben Jahre hin regelmässig mit ehemaligen Mitgliedern der RAF getroffen und den schwierigen Dialog mit diesen fanatisierten, später durch die Einzelhaft traumatisierten Menschen gesucht. Daraus leitet sich eine Nachdenklichkeit ab, die wir bei den Menschen vergeblich suchen, welche „Reue“ zur Bedingung einer Begnadigung von Christian Klar und eine Freilassung auf Bewährung von Brigitte Mohnhaupt machen. Der Schmerz über eine ungerechte Tat, den wir Reue nennen, stellt sich nicht einfach ein – es sei denn, wir gehen so vor, wie es die Kirche lange Zeit tat: Wer ein Büsserhemd trug und Asche auf sein Haupt streute, der war ein reuiger Sünder, auch wenn er insgeheim Rache schwor, wie Kaiser Heinrich auf seinem Gang nach Canossa.

Seelische Umkehr

Diese Form der Reue war ein Strafritual; sie durfte daher auch ein Lippenbekenntnis sein. Eine seelische Umkehr, wie wir sie uns von einem modernen Menschen wünschen, setzt einen inneren Freiraum voraus, schrieb Angelika Holderberg am 2.2.2007 in der Süddeutschen Zeitung. Echte Reue wächst aus der Erkenntnis, dass wir anderen geschadet haben und unsere Überzeugungen, aus denen heraus wir das taten, nicht gerechtfertig waren. So erhebt sich die Frage, „inwieweit Hochsicherheitstrakt und Isolationshaft, also die Haftbedingungen, denen Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt ausgesetzt waren und sind, dazu beigetragen haben, sich auf diesen Erkenntnisprozess einlassen zu können – oder ob sie eher zum Gegenteil führten: nämlich dazu, an Feindbildern festzuhalten.“ Terroristen können nicht anders als ihre Wahrnehmungen zu spalten: es gibt das Gute, das sie mit allen Mitteln durchsetzen wollen, und eine Welt von Feinden, die ebenso mit allen Mitteln zerstört werden muss. Was nicht in dieses Schema passt, wird ausgeblendet. Diese Spaltung aufzugeben, Zwischentöne wahrzunehmen, setzt voraus, dass jemand einen Entwicklungsschritt vollziehen kann, der nur unter sehr günstigen Bedingungen (wie sie etwa eine psychotherapeutische Klinik sich herzustellen bemüht) erfolgen wird. Wer jemals Menschen kennengelernt hat, die nur schwarz oder weiss kennen, nur Herzensfreunde oder Todfeinde haben, der weiss, wie schwer es ist, solche Haltungen aufzugeben.

Immer in Richtung

Spaltungsmodell Um sich also von einer terroristischen Vergangenheit zu distanzieren, muss jemand die innere Freiheit besitzen, das eigene Urteil, die eigene Sicht der Welt grundlegend zu revidieren. Wir kennen solche radikalen Veränderungen der Weltsicht, aber sie verlaufen durchweg in die Richtung auf das Spaltungsmodell, nicht von ihm fort. Es wäre, psychologisch gesehen, viel leichter, aus einem Menschen, der die Wirklichkeit differenziert wahrnimmt und sich in andere einfühlt, einen Terroristen zu machen, als umgekehrt aus dem Terroristen eine Person, die zu diesen reifen seelischen Leistungen fähig ist. Wer Einzelhaft ausgesetzt ist, muss alle inneren Möglichkeiten, Halt zu gewinnen, maximal anspannen, um nicht seelisch zu zerbrechen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Inhaftierten keine guten Kandidaten für ein Reue-Schauspiel sind; darüber hinaus aber echtes Mitgefühl für ihre Opfer und ein wirkliches Umdenken, einen Neuanfang bereits in der Haft zu erwarten, erscheint vom psychologischen Standpunkt so aussichtsreich wie die Operation eines Gehirntumors mit Hammer und Meissel.

Meine Beziehungsbücher

Die „Angst vor Nähe“ von 1986 war mein erstes „Beziehungsbuch“. Den Impuls, einen solchen Text zu schreiben, verdanke ich mehreren Einflüssen. Der erste ist meine eigene Geschichte.
Ich bin zweimal geschieden und kenne die Beschämung genau, wenn idealisierte Erwartungen zusammenbrechen und die Einsicht unausweichlich ist, dass es im Leben eben nicht immer glatt geht. Aber ich kenne auch den Trost, dass Beziehungsprobleme lösbar sind und die Scham abnimmt, wenn wir ein wenig Humor über die Primitivität etwa des Gedankens entwickeln, dass sich Psychologen (Psychoanalytiker gar) durch glatte Konfliktlösung auszeichnen müssten und es nicht viel wert ist, aus eigenem Scheitern zu lernen, wenn man es nicht geschafft hat, solches Scheitern von Anfang an zu vermeiden.
Das zweite Motiv ist die Beobachtung von Partnerproblemen aus meiner Arbeit als Therapeut in Familien, in Gruppen für Paare und in Einzelanalysen. Das dritte schliesslich ist ein kritischer Blick auf die Konsumgesellschaft. Die Methode des Vorgehens orientiert sich an der psychoanalytischen Tradition, die schon immer Kulturkritik und „Neurose“ verknüpfte. Dass ein solcher Versuch zum Bestseller wird, hatte ich 1986 nicht erwartet, aber es hat mich sehr ermutigt. So habe ich mich auch in der Zukunft nicht abbringen lassen, „Lebenshilfe“ nicht als Anleitung zur Anpassung aufzufassen, sondern als kritische Distanz zu Klischees jeglicher Herkunft.
Es gibt zwei Arten von moralischem Schwachsinn. Der eine ist allgemein bekannt und geächtet. Er betrifft die Gewissenlosigkeit des Soziopathen, der ohne Mitgefühl seine Kinder schändet oder seine Eltern bestiehlt. Die zweite Form des moralischen Schwachsinns hingegen verleugnet sich gern. Sie gibt sich manchmal sogar als überlegene Weisheit aus. Es ist die Variante des selbstgewissen Tugendboldes. Wo beim Soziopathen die Triebe über Einfühlung und Vernunft triumphieren, ist es beim Normopathen die Moral, mit der er die Vielfalt des Lebens, der Liebe, der Verstrickung und der Lösung erstickt. Wo ihn eine Frage beunruhigt, eine Erscheinung nicht zu seinen Normen passt, wird sie mit der Moralkeule plattgemacht.
Sigmund Freud hat uns wie kein anderer gelehrt, diese zweite Form des moralischen Schwachsinns wahrzunehmen. Das bedeutet freilich auch, dass die Psychoanalyse keine der Gewissheiten bietet, nach denen die Kosumenten von Lebenshilfe hungern. Sie eignet sich nicht dazu, etwas zu leisten, was in der globalisierten Konsumgesellschaft zum Opium der Medien geworden ist. Sie bietet keine einfachen Erklärungen und keine eindeutigen Lösungen. Die Sehnsucht nach Vereinfachung, nach Reduktion von Komplexizität gleicht der Sucht nach einer Droge. Viele von uns konsumieren dieses Gift in hohen Dosen und mit schädlichen Folgen. Da stört die Psychoanalyse. Sie wird durch Schnellmethoden attackiert, die vorgeben, sie könnten den Menschen neu programmieren, neu aufstellen, ja ihm sagen, was seine Gene ihm abverlangen und was nicht. Viele dieser Rezepte sind banal, einige geradezu Humbug, andere ebenso ehrwürdig wie simpel. Ich erinnere mich noch gut an einen Kongress zur Fortbildung von Ärzten, wo ein Redner die Lehren der stoischen Philosophen dem Publikum nahebrachte. Er nannte das kognitive Verhaltenstherapie, das wirksamste Mittel gegen Depressionen, viel besser als ein Herumstochern in der Vergangenheit, das er als Psychoanalyse auszugeben beliebte. Nun dürfte sich jeder nachdenkliche Analytiker der wissenschaftlichen Problematik seiner Theorie und Methode klar sein.

Einbrüche

Da Bücher zu den wenigen Dingen gehören, die in den bisher rund zehn Einbrüchen in das Haus noch nie mitgenommen wurden, ist die Hoffnung gering, dass meine psychologische Analyse der Befindlichkeit von Einbruchsopfern einen der Täter erreicht. Obendrein spielen sich die Szenen in Mittelitalien ab, nicht in Deutschland. Ferner wir man einwenden, dass – wer sich ein Haus in der Toscana leistet – sich über solchen Schaden nicht weiter aufregen soll, schließlich trifft er einen wohl situierten Mann, der ein privilegiertes Leben mit einem Ferienhaus führt und es daher nicht nötig hat, fremder Menschen Häuser zu knacken, um Flohmarktware aufzutreiben.

1965 war ich 24 Jahre alt und las in der Zeitschrift twen, dass man in der Toscana für ein paar tausend Mark würdevolle Steinhäuser in schönster Landschaft kaufen könne. Das Haus, das meine Verlobte (eine Studentin der Kunstgeschichte und frühere Dolmetscherin, die italienisch sprach) und ich fanden, kostete genau eine Million Lire. Das waren nach damaligem Kurs 6400 Deutsche Mark, die wir irgendwie auftrieben. Mein Anteil kam – später mutete mich das magisch an – aus einem Erbe. Mein Grossvater hatte um 1900 einen kleinen Hof mit vier Kühen in Niederbayern von seinem Ersparten gekauft; als er 1960 starb, wurde dieser Hof verkauft. Da mein Vater gefallen war, bekamen wir Enkel jeweils einige tausend Mark, die ich jetzt dazu verwendete, ein verlassenes podere mit einst vier Kühen – davon, wie in Niederbayern, zwei Zugkühen – in der Toscana zu kaufen.

Es gab kein fließendes Wasser, keine Autostrasse, keine Elektrizität, aber einen wunderschönen Blick und dicke Natursteinmauern samt Plumpsklo mit einem Sitz aus Carrara-Marmor. Das Häusl in Deindorf hatte einen Sitz aus Fichtenholz; das Wasser dort kam von einem Pumpbrunnen. Mir sind diese Parallelen erst sehr viel später aufgefallen.

Wir waren die ersten Deutschen in Vicchio; heute ist die germanische Population hier so gross, dass eigene Kulturveranstaltungen für sie geplant und ich zu Lesungen eingeladen werde. Und wir sind die letzten, die keinen elektrischen Strom, kein fliessendes Wasser und keine Fahrstrasse haben.
Dafür können wir uns mit allen anderen über die Einbrecher austauschen. Die Opfer sind keineswegs nur die Fremden und die leerstehenden Häuser; es sind auch Einheimische. Eine deutsche Freundin, die einen Marchese geheiratet hat, vermietet die sorgfältig restaurierten Häuser der Halbpächter von einst an Touristen. Ihr eigenes Haus hat sie mit schönen alten Möbeln eingerichtet. Nach einem Ausflug fand sie es leergeräumt vor; die Einbrecher mussten mit einem Lastwagen vorgefahren sein.

Der alten Dame, die uns seinerzeit das lange leer stehende Haus in den Wäldern über Vicchio verkauft hatte, brach ein noch radikalerer Diebstahl das Herz. Ihr würde- und liebevoller Schäferhund war eines Morgens vergiftet, ihre Villa mit allen alten Bildern und Möbeln ausgeräumt, während sie und die Familie ihrer Bediensteten geschlafen hatten.

Bei einem Berliner, der das letzte Haus auf dem Weg zum Monte Verruca gekauft hatte, einem Amateur-Astronomen, der an Besuche Außerirdischer glaubte, drangen die Einbrecher im Winter über das Dach ein und raubten ein Linsensystem. Es war eigens für ein Fernrohr gefertigt, das sie nicht mitgenommen hatten.

Unsere Traumatisierten

Oskar Lafontaine und Wolfgang Schäuble: Inwieweit bestimmen posttraumatische Reaktionen politische Entwicklungen?

Erbittert von Wolfgang Schäubles Vorschlägen zum Umbau des Rechtsstaates in eine Terrorbekämpfungsmaschinerie griff der Münchner Ex-Staatsanwalt und Innenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung Herbert Prantl zur Psychologie. „Seit dem Attentat vom 12. Oktober 1990 ist er an den Rollstuhl gefesselt. Wer jeden Tag die eigene körperliche Schwäche erlebt und sie zu überwinden versucht, der erträgt wohl die echten oder vermeintlichen Schwächen der Kollegen, aber auch die echten oder vermeintlichen Schwächen des Staates noch weniger als früher.“
Das Argument schlug Wellen. Die Bildzeitung sprach von einem „schweren Schreibunfall“. Schäuble selbst erklärte, „Es ist eine diffamierende Beleidigung, meine Denkanstöße damit zu erklären, dass ich selber Opfer eines Attentats geworden bin.“ Er fühle sich als Behinderter diskriminiert, habe sich früher gegen solche Vorwürfe von seiten anderer Politiker wehren müssen, jetzt kämen sie von Journalisten.
So lohnt es sich, einmal etwas genauer der Frage nachzugehen, ob und wie sich eine Traumatisierung auf das politische Urteil auswirken kann. Diesen Zusammenhang auszuschliessen scheint ebenso voreilig wie ihn hastig in die gewünschte Richtung zu biegen. Allein nach dem gesunden Menschenverstand lässt sich ebenso triftig behaupten, wer im Rollstuhl sitze, habe grössere Übung im Umgang mit Schwächen als jeder Gesunde. Denkt Schäuble deshalb an gezielte Schüsse auf Terroristen, weil er selbst angeschossen wurde? Oder liegt ihm deshalb soviel am Schutz möglicher Opfer, weil er selbst Opfer war? So lässt sich eine Debatte nicht führen.
Es gehört zu den interessantesten Fragestellungen in der Psychologie, wie Menschen mit Traumatisierungen fertig werden. Der Analytiker erfährt hier vielleicht am nachdrücklichsten, dass Menschen immer gut für Überraschungen sind. Der Freud-Schüler Sandor Ferenczi hat das in einen Vergleich gefasst, der mir aus dem Herzen spricht. „Wenn jemand nach fünfundzwanzigjähriger Analysenarbeit plötzlich anfängt, die Tatsache des psychischen Traumas anzustaunen, so mag er Ihnen ebenso merkwürdig vorkommen wie jener mir bekannte Ingenieur, der nach fünfzigjähriger Dienstzeit in Pension ging, sich aber jeden Nachmittag zur Bahnstation begab, um den eben abfahrenden Zug anzustaunen, oft mit dem Ausruf: ‚Ist denn die Lokomotive nicht eine wunderbare Erfindung!'“
Die erste Begegnung mit dem Rätsel der posttraumatischen Reaktionen in der deutschen Politik war 1999 der Rücktritt von Oskar Lafontaine. Er kam aus heiterem Himmel und war in seiner Radikalität unverständlich. Willi Brandt, grösster Sieger und grösstes Opfer der deutschen Sozialdemokratie nach dem Krieg, hatte in vergleichbarer Situation immerhin den Parteivorsitz behalten. Ich schlug damals vor, die Trauma-Psychologie zu Hilfe zu nehmen.