Ein grandioses Projekt Die Probleme im Kontakt mit einem anderen Menschen – und damit auch die Probleme im Kontakt mit einer fremden Kultur – entstehen einmal daraus, dass uns dieser Mensch fremd ist, wir seine Werte nicht kennen, umso weniger, je weniger wir über die Kultur wissen, aus der er kommt. Wie uns die Untersuchung der Verliebtheit gelehrt hat, entstehen jedoch vielleicht noch schwerer wiegende, mit heftigeren Aggressionen verknüpfte Probleme daraus, dass wir glauben, der Fremde sei uns gar nicht fremd, er sei vielmehr genau das, was wir uns wünschen, wonach wir uns sehnen, was wir aus einer uns vielleicht noch nicht bewussten Enttäuschung an den eigenen Eltern, der eigenen Kultur in das Fremde projizieren und dort wahrzunehmen meinen. Wer von den eigenen Eltern, der eigenen Heimat sehr enttäuscht wurde, wird mit doppelter Sehnsucht auf die Menschen seiner Wahlheimat jene Tugenden projizieren, die er in seiner ersten Heimat nicht gefunden hat. Wie schnell dieser Prozess kippt, zeigt jene Brasilianerin, die unbedingt zu einem deutschen Therapeuten will, obwohl sie sich noch sehr viel besser in Portugiesisch ausdrückt und es einige kassenzugelassene Psychologen aus Portugal oder Brasilien in der Stadt gibt. „Alle Brasilianer, die ich kenne, machen mich depressiv“, sagt sie. „Sie gehen immer in dieselben Kneipen, hören dieselbe Musik und jammern, dass in Deutschland alles viel schlechter ist als in Brasilien. Nur zurück wollen sie nicht.“ In dieser pauschalen Anklage projiziert die Klienten ihre eigene Enttäuschungsangst in „alle Brasilianer, die ich kenne“. Sich selbst erlebt sie noch gewillt, durch die Wahl des deutschen Therapeuten ihre Enttäuschung zu überwinden. Platon erzählt einen Mythos über den Ursprung des Eros: die Geschichte von den ungeheuer starken Kugelwesen, deren Kraft die Götter bedroht, bis diese sie dadurch schwächen, dass sie sie in zwei Teile schneiden „wie Eier mit Haaren“, und ihnen so die Sehnsucht einpflanzen, sich mit der verlorenen Hälfte zu vereinen. Während die Kugelwesen sich wie die Zikaden vermehrten, indem sie Eier in die Erde legten, erhielten die Menschen danach das Geschenk der sexuellen Vereinigung. 5 Da es drei Sorten solcher Kugelwesen gab – die Weiblichen, von der Erde, die Männlichen, von der Sonne, und die Mannweiblichen vom Mond – gibt es nun auch Frauen, die sich mit Frauen vereinigen wollen, Männer, die das mit Männern tun möchten, und schliesslich auch Frauen und Männer, die sich nach etwas sehnen, das anders ist als sie, um sich mit ihm zu vereinen und dadurch wiederum Wesen hervorzubringen, die – wie wir wissen – stets für Überraschungen gut sind. Die psychoanalytische Forschung hat Platons Mythos sozusagen vom Kopf auf die Füsse gestellt und seiner Unwahrscheinlichkeiten beraubt, aber um einen wesentlichen Bestandteil – die grenzenlose Sehnsucht nach einer illusionären Einheit – kommt sie nicht herum. Sie spricht von der Sehnsucht nach Symbiose, Verschmelzung, Spiegelung, Anlehnung, Idealisierung und meint damit, dass die oben skizzierte Bereitschaft des Menschen, zu sehen, was er sich wünscht und zu glauben, es sei tatsächlich da, sich gerade in den mächtigsten, den erotischen Bedürfnissen besonders zeigt. In Wahrheit ist der Gegensatz von “Phantasie” und “Realität” ein Kunstprodukt, das durch Eigenheiten der neuropsychologischen Grundlagen unserer Orientierung erzeugt wird.
Veröffentlicht am 5. August 2008
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