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Die Macht der Religion (Teil 2)

Zum Dritten war er als Redner und Organisator, als charismatischer Therapeut so erfolgreich, dass er diese Form der Wirkung auf ein Publikum bald mehr schätzte als die einsame Arbeit des Autors, der sich selbst in einer Papierwelt einsperren muss. Schließlich entwickelte die Gruppe der „Scientologen“, die um ihn herum entstand, eine Eigendynamik. Scientology ist deshalb im Zusammenhang mit der Frage nach der Religion so interessant, weil es deren ungebrochene Kraft verrät, neue (Phantasie)welten zu nutzen und zu erobern. Die Götter waren Astronauten, die Seelenwanderung erschließt intergalaktische Dimensionen, der menschliche Geist kennt keine Grenzen, auch wenn die Menschheit bisher kläglich versagt hat, in die Weiten des Alls vorzudringen und die Ökologie des Planeten zu stabilisieren. Mit allen Erweiterungen, welche die Technik der Raumfahrt und die Neurophysiologie verheißen, wächst nicht die Bereitschaft zu Aufklärung, Selbstkritik und Bescheidenheit. Im Gegenteil: Träumer und Visionäre bauen Erleuchtungskonzerne auf, in denen sich die uralte Dynamik der charismatischen Propheten spiegelt. Freuds Bild der Religion trifft paradoxerweise jene Erscheinungen, die sich eher einem soziologischen oder kulturwissenschaftlichen Ansatz fügen als nach einer tiefenpsychologischen Analyse rufen. Es ist die statische, „kalte“, organisierte Religion. Für die „heiße“ Religion, die in Sekten auflebt, sich angesichts kultureller oder persönlicher Probleme entwickelt, hat Freud sich kaum interessiert. Diese wäre jedoch einer psychoanalytischen Studie zugänglicher, entsteht sie doch in der Gegenwart und verrät durchaus persönliche Probleme. Wer den heißen Glauben verstehen will, kommt um die Charismatiker und Sektenstifter nicht herum. Hier tragen Narzissmusforschung und analytische Gruppendynamik sehr viel weiter als die klassische Analyse. Die heiße, kreative Phase der Religionsstiftung hängt damit zusammen, dass eine tief verletzende Erfahrung manisch abgewehrt wird. Zur Karriere des Schamanen gehört in vielen Kulturen die „Schamanenkrankheit“, zur Laufbahn des Propheten das Trauma, der epileptische Anfall, das Zerbrechen der Sicherheit. Nun liegt der Einwand nahe, dass alle Menschen in ihrem Selbstgefühl gekränkt sind, weil ihnen allen der Tod droht, weil sie Schmerz, Verlust, Krankheit und Behinderung heimsuchen. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Menschen die meiste Zeit ihres Lebens keine Religion brauchen, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt sind, ihren Alltag zu bestehen. Zu ihrem großen Glück, aus einer von den Priestern verachteten Wurstigkeit heraus, denken sie nicht weiter über Vergangenheit und Zukunft nach. Erinnern wir uns an Papageno! Wir sind in unserem Nachdenken über die Religion auf jeden Fall in eine neue, individualisierte Phase eingetreten. Wir können nicht wieder zurück zu der Sicherheit, die früheren, traditionellen Kulturen ein alle Glieder der Gemeinde fassender Glaube gab. Wir können durch historische Zeugnisse belegen, dass auch damals die meisten Menschen nicht in dem Sinn fromm waren, dass sie sich intensiv und persönlich mit religiösen Themen beschäftigten. Hoch emotionalisiertes Ringen um existenzielle Wahrheiten war damals vermutlich nicht häufiger als es heute die Suche nach psychotherapeutischer Hilfe ist.

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