Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit beruht auf einem ständigen Korrekturprozess, in dem wir dramatische Entwürfe wieder zurechtrücken. Wo das nicht gelingt, z.B. bei amputierten Gliedmassen, die das erlebende Ich nicht mehr mit realen Rückmeldungen versorgen, können Phantasien eine peinigende Macht gewinnen (“Phantomschmerzen”). Wie die menschliche Wahrnehmung, Kreativität und viele andere wesentliche Merkmale ist auch unser Kontaktverhalten auf einem Dialog von kühnem Entwurf und kritischer Verfeinerung aufgebaut. Dieser scheint eine neurologische Grundlage in den unterschiedlichen Funktionen der beiden Gehirnhälften zu haben. Die kontaktstiftende Funktion ist das Sich-Verlieben, das auf einer Überschätzung (Idealisierung) des Partners beruht. Die kontakterhaltende Funktion ist dann der realistische Austausch mit einem Partner, den wir nach seinen vorwiegend sozial definierten Qualitäten Liebe, Freundschaft, Kollegialität, Kameradschaft nennen. Vorurteil und Hass gegen das Fremde hingegen entstehen aus dem Kippen der primitiven Verliebtheit in ihr ebenso primitives Gegenteil: der Schritt vom Erlöser zum Verderber ist kürzer als der von der Illusion über den Anderen zur Begegnung mit seiner Wirklichkeit. Wer aus dem positiven Vorurteil in das negative kippt, erspart sich die Auseinandersetzung mit der Realität, die auch immer bedeutet, sich Kränkungen zu stellen und Ängste vor Kränkungen zu überwinden. In einem narzisstischen Mangelzustand entwickelt das Ich eine gesteigerte Wahrnehmung für Quellen von Aufmerksamkeit und Grandiosität. Es blickt sozusagen um sich, sucht nach Möglichkeiten, zu idealisieren, sich zu verlieben, sich zu identifizieren, an fremder Grandiosität auf die eine oder andere Weise zu partizipieren. Wohl dem, der sich beispielsweise allein in einem Garten, in freier Landschaft, mit einem Buch oder in der zeitweiligen Verschmelzung mit den Helden eines Kinofilms erholen und seine Bestätigungswünsche auf unschädliche Weise erfüllen kann. In den Fällen einer narzisstischen Störung benötigt das Ich stärkere Reize. Einer der grössten Reize ist das Fremde. Wer Liebe geniessen kann und will, wer Liebe nicht mit Anstrengung, mit einer Aufgabe verbindet, der wird in der Regel kein Problem 6 damit haben, es sich bequem zu machen und sich dorthin zu verlieben, wo ein Partner erreichbar, verfügbar, vertraut ist. Wer aber in der Liebe Erlösung sucht, wer etwas Besonders benötigt, wer Kränkungen zu kompensieren hat, der wünscht sich in seiner Liebeswahl etwas, das auch seinen Ehrgeiz befriedigt, der will es kompliziert und sucht die Aufwertung, die im Triumph über solche Komplikationen liegt. So stehen viele interkulturelle Partnerschaften unter grossem Beweisdruck: Sie müssen gelingen. Sie dürfen nicht an Konflikten reifen, sondern sie müssen konfliktfrei sein, sonst taugen sie nichts. Dieser Druck wächst, wenn ein Partner oder eine Partnerin die Grossfamilie ersetzen soll. Die junge Perserin, die aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen musste und einen Deutschen heiratete, erklärt ihren Partner nach drei Ehejahren zu einem emotionalen Krüppel, einem typischen Deutschen, der nur Arbeit im Kopf hat, erotisch eine taube Nuss. Sie erträgt es nicht, wie er sich von ihr zurückzieht, wenn sie ihn derart beschimpft, und kommt mit Depressionen in einer Therapie.
Veröffentlicht am 5. August 2008
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