Angesichts der neun Babyskelette, die jetzt in Breskow-Finkenheerd gefunden wurden, gehört es schon fast zum guten Ton, nicht nur Abscheu, sondern absolutes Unverständnis zu bekunden. In solchen Situationen bemerken wir wieder, wie wichtig uns die Illusion von der guten Mutter ist und wie zäh wir an ihr festhalten. Es fällt uns sehr schwer, zu akzeptieren, dass Mutterschaft keine persönliche und moralische Leistung ist, sondern eher ein Geschenk günstiger innerer und äusserer Bedingungen.
In Wahrheit ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind wie alle hoch leidenschaftlichen und existenziellen Beziehungen ambivalent, das heisst aus Liebe und Hass gemischt. Viele Frauen sehnen sich leidenschaftlich nach einem Kind und tun (fast) alles, um schwanger zu werden. Aber wenn Mütter offen sprechen können, wenn das Gute nicht erzwungen, sondern gefördert werden soll, dann erzählen sie uns doch recht genau, wie oft sie ihr armes, hilfloses Baby am liebsten gegen die Wand klatschen würden. Wieder einmal, wie angesichts anderer psychologischen (Pseudo)Rätsel auch, sollten wir uns nicht über schreckliche Taten entsetzen, sondern mit Respekt zur Kenntnis nehmen, wie mächtig doch die Gegenkräfte in den meisten Menschen wirken, die im grossen Ganzen zuverlässig verhindern, dass aus phantasierten Gewalt-, Amok- und Terrortaten Wirklichkeit wird. Selbst unsere näheren Verwandten im Reich der Säuger, die Affen, müssen Mutterliebe lernen.
So hat der amerikanische Zoologe Harry Harlow nachgewiesen, dass ohne ausreichende Zuwendung von Artgenossen aufgezogene Rhesusaffen miserable Mütter werden, die ihre Babys unzureichend versorgen, sie tragen, als seien sie ein Stück Holz. Die Babys dieser traumatisierten Mütter hätten oft nicht überlebt. Das geschah nur, weil die Pfleger eingriffen. Wenn wir nach den Grundlagen der gelingenden Mutterschaft forschen, finden wir nirgends eine isolierte, mit einem Kind allein gelassene Frau. Wir finden eine Gruppe, Frauen und Männer, die sich fürsorglich um das Neugeborene organisieren und es begrüssen. In allen Primitivkulturen wandern die Säuglinge von Arm zu Arm. Eine Mutter hat nur in absoluten Ausnahme- und Notsituationen zu bewältigen, was heute vielfach „normal“ ist: unter Einzelhaftbedingungen Tag und Nacht für ein Baby zuständig zu sein, das sie versorgen muss, weil sie sich das schliesslich selbst eingebrockt hat. Nur wer sich selbst ein Leben lang emotional von Kindern ferngehalten hat oder aber ein unerschütterlicher Gutmensch ist, wird nicht verstehen, dass unter solchen Bedingungen nicht die Liebe wächst, sondern Hass und Wut zu kurzschlüssigen „Befreiungstaten“ führen können.
Der Fall aus Brandenburg wirkt besonders dramatisch und widersprüchlich, weil die Mutter vier Kinder leben liess und versorgte, neun andere aber nach der Geburt verscharrte. Aber wer die Geschichte kennt und sich jemals mit primitiven Kulturen beschäftigt hat, findet das weit weniger bemerkenswert. In den Gesellschaften der Jäger und Sammler, auf die unsere Erbanlagen zugeschnitten sind, würde einer solchen Mutter nichts geschehen. Es wäre ihre Sache, ob sie ein Kind überleben oder sterben lässt. Im Rom der Antike wurde das Neugeborene vor den Vater gelegt. Hob er es auf, genoss es den Schutz der Familie. Liess er es liegen, wurde es in den Wald gebracht und allein gelassen; so gab es später keinen Täter, an dem sich die Seele hätte rächen können. Das Schwinden der Grossfamilie mag unser Sexualleben aus der drückenden Kontrolle einer erweiterten Verwandtschaft befreit haben. Aber es hat auch dazu geführt, dass nicht mehr eine einfühlende, erfahrene Frauengruppe – keine einzelne Frau! -das Baby betreut. Zwei Partner tun es, hinter denen ein von Männern gemachtes Gesetz steht. Das liebende Paar ist jedoch ein anspruchsvolles und gar nicht selten höchst instabiles Milieu. In Wunschträumen festigen Kinder die Ehe; in der Realität treiben Geburten die Scheidungsziffern auf ihren frühen Höhepunkt.