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Unsere Traumatisierten

Was verbindet Wolfgang Schäuble mit Oskar Lafontaine? Auf den ersten Blick wenig; der eine hat seine bisherige politische Heimat verlassen, der andere ist beharrlich in ihr verblieben und hat in das Amt des Innenministers zurückgefunden, das er durch Schröders Wahlsieg verloren hatte. Ähnlich wie bei Lafontaine machte sich auch bei Schäuble die Persönlichkeitsveränderung durch die Traumatisierung erst nach einem langen Intervall und vor allem nach neuen Belastungen seines Selbstgefühls bemerkbar. Das hängt damit zusammen, dass unmittelbar nach einer schweren Verletzung die Opfer Erfolgserlebnisse sammeln, welche sie seelisch stabilisieren. Schäuble wurde lange Jahre für seine Rehabilitation bewundert. Aber nach dem Ende der Ära Kohl änderte sich das jäh. Schäuble musste viel einstecken. Als er nach einer langen Phase in der Opposition und heftigen neuen Kränkungen im Zusammenhang mit einer Schwarzgeld-Affäre zum zweiten Mal Innenminister wird, hat er sich verändert. Er scheint nur Freund und Feind, schwarz oder weiss zu kennen und kann sich nicht mehr in die Menschen einfühlen, die von einem Innenminister vor allem Gelassenheit und Vorsicht erwarten, nicht Gedankenspiele über gezielte Tötungen und den Abschuss von gekaperten Passagiermaschinen durch Piloten der Luftwaffe.
Jeder der beiden ist auf seine spezifische Weise radikal geworden und stellt die „Systemfrage“. Lafontaine will dem Kapitalismus an den Kragen, Schäuble dem Grundrecht des Verdächtigen. Beide verfolgen ihre Ziele, ohne sich von Kritik beirren zu lassen, tief überzeugt, über eine Wahrheit zu verfügen, welche keinen Widerspruch duldet. Das bedeutet auch, sich lieber gleich an die Massenmedien zu wenden und dort eine radikale Meinung zu vertreten, als geduldig nach dem Konsens in einer Partei oder Koalition zu suchen.
Wer Politikern aufmerksam zuhört, wird sich keine Illusionen mehr darüber machen, dass sich Einfühlung und Rücksichtnahme schlecht mit der Teilhabe an unseren Machtsystemen vertragen. Die Traumatisierten verkörpern diese Untugend auf eine lehrreich krasse Weise. Daher scheint es mir auch so wichtig, sie zu integrieren und möglichst ernst zu nehmen. Wir brauchen ihren Mut und ihre Orginalität; sie brauchen Einbindung und liebevollen Widerspruch, um sich nicht vollständig zu isolieren.

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