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Die Macht der Religion (Teil 2)

In Karl Mays Abenteuererzählungen lässt sich überall, dem Traum im Traum ähnlich, die Lust an der Lüge entdecken. Sie tritt als Kriegslist auf, als taktische Verstellung, als geschickter Kunstgriff, die Absichten des übermächtigen Feindes zu erraten. Sie gebärdet sich als sympathisch-bescheidener Scherz, stellt das eigene Licht unter den Scheffel, lässt sich von Aufschneidern erst einmal kleinzeichnen, um sie dann desto sicherer zu beschämen. Die primitive Suche nach Selbstbestätigung kann im Grund nie zu Ruhe kommen. Sie ähnelt urtümlichen Knochenfischen wie dem Hai, der auch ständig vorwärtsschwimmen muss, um nicht zu ersticken. Da man, um taugliche Lügen zu erfinden, mindestens durchschnittlich intelligent sein muss – Karl May gehörte sicher zu den Hochbegabten – wird die erlogene Geltung ständig von Selbstkritik zersetzt und muss gesteigert werden. In der Pseudologie wird eine depressive Erniedrigung und Vernichtung des Selbstgefühls manisch abgewehrt. So ist auch das Bedürfnis nach erfundenen Aufwertungen unersättlich. Der hektische narzisstische Appetit von Karl May zeigt sich in den zahllosen Variationen, in denen er immer wieder siegen, überzeugen, sich als den geistig, moralisch, religiös, an Körperkräften und Zielsicherheit überlegenen erweisen muss. Während der Leser angesichts dieser Vorwegnahme faschistischer Grandiosität zu begreifen meint, weshalb Hitler ein begeisterter Karl May-Leser war, tut er dem Erzähler doch Unrecht, wenn er ihn auf diese Rolle einengt. Es ist etwas in diesen Erzählungen, was gerade im Plakativen Interesse weckt und hält. In elenden Umständen aufgewachsen, ausgehungert, eine Weile durch Vitaminmangel blind, später vom alkoholkranken Vater verprügelt und geängstigt, aber auch in grandiose Projekte einbezogen, hatte Karl May jeden Anlass, an primitiven narzisstischen Phantasien von Allmacht und Allwissenheit festzuhalten. Ein wichtiges Zeichen der Selbstgefühlsstörung ist Ruhelosigkeit, die „narzisstische Unersättlichkeit“. Jede Bestätigung hält nur kurze Zeit vor, ihr muss eine größere folgen. Karl Mays persönliche Tragödie liegt darin, dass er – von den Gespenstern seiner traumatischen Kindheit gejagt – seine manische Abwehr nur unzureichend durchschaute und daher immer wieder auch in Situationen den Kontakt zur Realität verlor, in denen er sich durch seine Phantasmen schadete. Darin wurzelt seine frühe Kriminalität, die durchweg hochstaplerische, betrügerische Züge trägt. In dieser manischen Abwehr, die angesichts der drohenden Grenze, der befürchteten Trauer die eigenen Verleugnungsbemühungen ins Wahnhafte steigert, wurzelt auch seine Krise als Schriftsteller. Es ist ihm zu wenig, nur der zu sein, der Reisen erfindet. Die geschriebene Erfindung, die Anerkennung der Leser, der Zuspruch der Verleger reichen nicht aus, um den Autor vor seiner latenten Depression zu schützen, vor dem Gefühl, dass die Welt, die er sich geschaffen, in der er gelebt hat, sich ebenso auflöst und zerfällt wie der heroische Charakter, der zu sein sich dieser ängstliche und liebesbedürftige Mensch so sehr wünscht. Daher braucht er handgreifliche Beweise, um sich an den eigenen Erfindungen festzuhalten, die Jagdkostüme, den Henrystutzen, den Bärentöter, die Kette mit den Reißzähnen der erlegten Bären oder Löwen, sogar die Silberbüchse Winnetous. Er muss sogar den letzten Band der Winnetou-Trilogie umschreiben, um zu erklären, wieso die Waffe in seine Hände kommt, mit der doch sein Blutsbruder im fernen Amerika bestattet wurde.

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