Als ich mich vor 26 Jahren scheiden lassen wollte, musste ich es irgendwann auch meiner Mutter sagen. Sie riet mir energisch ab ab. Wer heiratet, muss sich vorher überlegen, auf was er sich einlässt. Es geht nicht an, eine Ehe aufzulösen. „Du musst dich zusammennehmen und die Sache durchstehen!“ Als ob ich mir das nicht selbst schon hundertmal gesagt hätte! Es ging mir auf die Nerven. Ich hatte genug Probleme. Ein Psychologe soll sich nicht scheiden lassen. Wozu ist er Experte für die Lösung emotionaler Konflikte?
Schliesslich sagte ich gereizt: „Du hast ja keine Ahnung. Wie lange warst du eigentlich verheiratet? Wie lange hast du mit Vater zusammengelebt? Ich habe mehr Eheerfahrung als du, also rede mir nicht drein!“
Ihre Reaktion rechne ich ihr noch heute hoch an. Sie schwieg, überlegte, sagte dann nachdenklich: „Eigentlich hast du recht. Ich habe wirklich nicht viel Erfahrung damit.“ Meine Eltern haben 1938 geheiratet; 1939 wurde mein Vater eingezogen, 1944 ist er gefallen. Meine Mutter hat später nicht mehr geheiratet; sie behauptete, es habe sich kein passender Mann gefunden. Tatsächlich gab es nach dem Krieg viele Witwen und wenige Männer, die für eine geistig anspruchsvolle Frau mit zwei Söhnen genügend Aufmerksamkeit, Geduld und Ausdauer mitbrachten. Eine Witwe war Herrin über ihren Haushalt; eine verheiratete Frau damals nicht.
Wer sich beruflich damit beschäftigt, was alles in Beziehungen scheitern kann, kommt nicht darum herum, sich über die eigene Elternbeziehung Gedanken zu machen. Eine Gelegenheit dazu ist die Lehranalyse. Aber damals war ich jung und suchte in mir oft nach dem, was die Theorie erwarten liess. Heute glaube ich, dass ich am meisten aus dem ständigen Vergleich zwischen meiner eigenen Entwicklung und der jener Menschen gelernt habe, die sich mir anvertrauen. Je länger ich zuhörte und abwechselnd auf mich und auf andere schaute, desto besser konnte ich auf jene festen Vorstellungen über die richtige Beziehung und die gute Ehe verzichten, die mich an meiner Mutter empört hatten, von denen ich selbst aber auch alles andere als frei war. Wichtiger in Beziehungen wurde mir etwas ist wie ein freier Raum, in dem nicht Werte gesetzt, sondern Geschichten erzählt werden. Wir meinen viel zu oft, Gutes zu tun, wenn wir ein Gegenüber mit Werturteilen verproviantieren, meist ohne uns zu fragen, ob der Beratene nicht schon viele solche Meinungskonserven mit sich schleppt.
Die Reaktion meiner Mutter auf meinen Protest ist ein Beispiel für diese Offenheit. Ich hatte ihr die Sohnesrolle verweigert und mich als Erwachsener in die Brust geworfen. Sie überlegte vielleicht kurz, ob sie sich auch in die Brust werfen, auf ihrem höheren Alter beharren sollte. Dann liess sie es sein. Der Junge sollte auch einmal rechthaben. Sein Argument konnte stehen bleiben. Kinder sind selten so, wie sie sich ihre Eltern gewünscht haben – und Eltern ebensowenig so, wie sie sich Kinder wünschen. Aber die Menschheit würde aussterben, wenn wir die Illusion vollständig aufgeben müssten, dass doch etwas von dem, was uns kostbar ist, in unseren Kindern weiterlebt. Die schwindende Bereitschaft, Kinder zu bekommen, hängt sicher auch zum Teil damit zusammen, dass uns die Aussichtslosigkeit von Erwartungen, genau die richtigen Kinder zu haben, deutlicher geworden ist. So denkt der Vater, der sich Gymnasium und Studium erkämpfen musste, sein Sohn wäre glücklich und dankbar, wenn er ihm den Weg in eine akademische Laufbahn ebnet. Aber der Sohn zieht es vor, sich als Punk zu gebärden und nicht auf seine Noten, sondern seine Piercings stolz zu sein. Die Werte eines Aufsteigers und eines Punks sind unvereinbar.
Veröffentlicht am 4. August 2008
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