Als 1946 ein Dieb aus unserer Speisekammer in Passau einen Butterklumpen stahl, den wir der bäuerlichen Verwandtschaft verdankten, erklärte ich pathetisch, dieser Mann sei weit hassenswerter als dieser russische Soldat. Aus Gesprächen in meiner Kindheit kann ich nichts von der Begeisterung meiner Eltern für die Nazi-Partei rekonstruieren.
Meine Mutter hatte Hitler einmal in München gesehen, in einem Braukeller. Sie hielt sie ihn für einen Proleten, ungebildet, wie schon seine Tischmanieren verrieten. Er beherrschte keine Fremdsprache, ganz zu schweigen von Latein oder Griechisch. Man habe gehofft, die Akademiker in den Ministerien würden ihn zur Vernunft bringen. Das alles hörte sich an wie ein kleines Missgeschick. Erschüttert über Millionen Tote schien niemand, aber auch der Tod meines Vaters war eine von Emotionen scheinbar befreite Tatsache. Von Auschwitz wurde nicht gesprochen, wohl aber erheiterten sich meine Großmutter und meine Mutter über die amerikanischen Besatzer, ihre eng geschnittenen Hosen und ihren Hygienefimmel.
Wie spät sich Kindheitsrätsel lösen und wie viel das über den Umgang mit der NS-Zeit sagt, zeigt meine Beziehung zur älteren Schwester meiner Mutter, Tante Maria. Sie war aus mir dunklen Gründen verschwunden, meine Oma sorgte für ihre beiden Töchter. Als Tante Maria zurückkam, war sie sehr blass, sehr ernst und oft wie geistig abwesend. Viel später hat mir meine Mutter erzählt, dass ihre große Schwester und ihr Ehemann beides Tausendprozentige gewesen seien. Nach dem Krieg, im Zusammenhang mit der Scheidung von ihrem Mann und einer erneuten Bekehrung zum katholischen Glauben, war sie monatelang in einem Nervenkrankenhaus gewesen und mit Insulinschocks behandelt worden. An diese Erinnerungen durfte niemand rühren. Später war sie auf eine unfrohe Weise bigott, arbeitete als Lehrerin und starb an einer Immunschwäche, nachdem sie mit fünfundsechzig Jahren pensioniert worden war.
Vielleicht wäre es richtiger, nicht von der Unfähigkeit zur Trauer zu sprechen, wie es Margarete und Alexander Mitscherlich taten, sondern von der Kraft zur Trauer und dem Mangel an dieser Kraft. Ähnlich wie geschiedenen Eheleuten oft die Kraft mangelt, den inneren Zugang zu dem Bild von sich selbst zu finden, das einmal in Liebe und Hoffnung mit verlorenen Partner verbunden war, so hatte auch kaum jemand mehr Zugang zur einstigen Liebe zu Hitlers Reich. Nach 1945 war es den meisten deutschen Soldaten unmöglich, den Dienst in einem destruktiven System nicht zu verdrängen und sich in heimliche Verbitterung zu verlieren, wie wenig ihnen ihre Opfer gedankt wurden.
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