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Berufsrollen unter Druck

Der kleine Massai respektiert die Kinderpflegerin und tut, was sie ihm sagt. Gegen die Erzieherin rebelliert er, weigert sich, ihr zu folgen und beschimpft sie, wenn sie ihn nicht in Ruhe lässt.
Die Erzieherin spricht mit der Mutter und rät zu einer Kindertherapie; der Junge sei eindeutig verhaltensgestört. Die Mutter frägt irgendwann gegen Ende des Gesprächs zurück, ob nicht die Erzieherin das emotionale Problem habe und etwas unternehmen müsse? Sie studiere selbst Psychologie, sagt sie spitz. Der kleine Massai mache bereits eine Behandlung wegen eines Aufmerksamkeitsmangelsyndroms. Sie habe neulich mit der anderen Tante gesprochen. Die hätte gesagt, er mache sich prächtig, sie hätte keine Disziplinprobleme mit dem Jungen.

Empört klagte die Erzieherin bei der Leiterin über dieses unloyale Verhalten ihrer Kollegin. Sie sei ihr in den Rücken gefallen, habe sie bei der Mutter unmöglich gemacht, wie sollte man hier professionell arbeiten, wenn die einfachsten Regeln missachtet würden. Sie verlangt, im Kindergarten die Regel einzuführen, dass die Kinderpflegerinnen nur nach Absprache mit der Gruppenleiterin den Eltern Auskünfte geben dürfen. Außerdem bittet sie, in eine andere Gruppe versetzt zu werden, das Vertrauensverhältnis mit der Kollegin sei zerstört, und den kleinen Massai wolle sie auch nicht mehr sehen. Neulich habe er ihr sogar Schläge angedroht, und er sei sehr groß und stark für sein Alter.

Die Szene zeigt, dass es möglich ist, von professioneller Arbeit zu sprechen und sich dennoch wie ein beleidigtes Kind zu verhalten. Professionelle Arbeit bedeutet schließlich gerade nicht, dass Fragen einfach zu klären sind und Probleme durch Rückzug aus der Welt geschafft werden können.
Vor ihrer Anklagerede müsste die Erzieherin wissen, ob ihre Kollegin die Auskunft gab, obwohl sie ihr ihre Probleme mit dem kleinen Massai erklärt hatte. Ferner müsste sie, gesetzt den Fall, sie ist selbst an einer professionellen Entwicklung interessiert, sich eher fragen, welche Mittel die Kollegin einsetzen kann, die ihr fehlen. Denn Professionalität beruht nicht darauf, sich dank einer Ausbildung überlegen zu fühlen, sondern den gestellten Aufgaben gerecht zu werden. Das Ziel wäre also ein Team aus Erzieherin und Kinderpflegerin, in dem beide voneinander lernen können, indem sie nicht miteinander rivalisieren, sondern die Arbeit so organisieren, dass sie möglichst ökonomisch und wirkungsvoll für beide erledigt wird.

Die empörte Erzieherin zeigt auch das typische Qualifikationsmissverständnis in professionell wenig gefestigen Institutionen. Dort gilt bessere Ausbildung ungefragt als Recht, mehr Aufmerksamkeit für die eigenen (regressiven) Bedürfnisse zu finden, während sie in Wahrheit auch die Pflicht enthält, Verantwortung zu übernehmen und die Interaktion mit den weniger Qualifizierten konstruktiv zu gestalten. Im Grunde hat ein Chef, der glaubt, er könne sich aufgrund seines Status schlechter benehmen als seine Mitarbeiter ihm gegenüber, noch nicht begriffen, worum es geht und wofür er ein höheres Gehalt bekommt als diese Mitarbeiter.

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