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Stalking und andere Phantasiebeziehungen – Der Liebeswahn heute

Dieser Beitrag entstand für das Programmheft zu Händels Orlando an der Komischen Oper Berlin

Eine Lehrerin, die mit 43 Jahren noch Jungfrau war und seit fünf Jahren in einer solchen Phantasiebeziehung mit einem Kollegen lebte, wurde von ihm auf eine Bergtour eingeladen. Auf dem Gipfel bot er ihr das Du an; sie erschrak so sichtlich, dass er seinen Antrag verlegen zurücknahm und die frühere Distanz wieder herstellte.

Die Objekte des Liebeswahnsinns wissen nichts von dem, was sich da in einer verschlossenen, in allen Lebensbereichen außerhalb der Erotik rational funktionierenden Frau abspielt. Sie ahnen nichts davon, wie jeder Blick, jede Geste, jede Aufmerksamkeit für eine andere Frau an Bedeutung gewinnt, wie sie eine Woche Glück einleiten kann oder einen Monat Elend. Während auf jeder Bühne der Welt der Wahnsinn hoch dramatisch ist und schnelle Veränderungen ins Szene setzt, entwickelt sich gerade der Liebeswahn im Alltag schleichend, langsam, von Versuchen durchmischt, ihn aufzuhalten. Irgendwann vergehen dann viele Stunden damit, sich Liebesszenen, Liebesgeständnisse auszumalen, ein Zusammenleben, Reisen.

Die Welt von Orlando dramatisiert solche Gefühle, und der Wahn übersteigert das Liebesdrama und die Liebesverwicklungen noch einmal. Wo sie uns darauf vorbereitet, dass die Liebe voller Überraschungen ist, gewinnt die Barockoper ihre therapeutische Qualität.

In Schäferhütten und Zauberhöhlen, auf Himmelswägen und im Getümmel der Unterwelt geht es immer nur um Erfüllung und Enttäuschung. Orlando erscheint mit einer Prinzessin, die er gerade gerettet hat, und ist schon wieder verschwunden. Niemand lebt hier in festen Bindungen; alles ist offen – wie im Reich der Phantasie, nicht aber wie im erotischen Leben Erwachsener. Angelica verliebt sich in Medoro, während sie seine Wunden pflegt; so entzieht sie sich der Verpflichtung, Orlando zu lieben, der ihr das Leben gerettet hat.

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