Vortrag
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Die Illusionen über das Gegenüber und die virtuelle Welt

Je mehr sie phantasiert, desto schlechter und wertloser fühlt sie sich nachher, weil sie immer irgendwann dem Gedanken begegnen muss, dass der ersehnte Partner nicht daran denkt, ihre Liebe wahrzunehmen und zu erwidern. Wem Frauen das Geheimnis ihrer Phantasiebeziehungen anvertrauen, der ist immer wieder überrascht, wie wenig in diesen Fällen die Phantasie ihre normale Funktion ausübt. Sie bereitet nicht auf die Wirklichkeit vor, sondern überhöht diese, schafft eine Welt, in der die Probleme des Alltags nicht mehr existieren. In einem anderen Fall fühlte sich eine Studienrätin viele Jahre lang einem Kollegen eng verbunden; sie machte lange Wanderungen mit ihm, sprach über Pflanzen und Sterne (das gemeinsame Fach war die Biologie). Wenn sie den Eindruck hatte, er interessiere sich für andere Frauen, litt sie alle Qualen der Eifersucht. Aber die ganze Zeit blieb sie mit dem Kollegen beim Sie. Einmal, auf einer Bergtour, bot er ihr das Du an. Sie war so verdattert, dass er glaubte, sie lehne ihn ab und zu der vertrauten Anrede zurückkehrte. In allen Fällen, in denen ich solche Frauen behandelt habe, war eine einschränkende, symbiotische Mutter-Tochter-Beziehung die Ursache für die an einen Wahn grenzende Liebesphantasie.
Die Triangulierung („Dreieckwerdung“) in dem Sinn, dass ein zweites Liebesobjekt gewonnen werden kann, das dem Kind eine beschützte Autonomie zwischen den Eltern erlaubt, hatte nie stattgefunden. Die Eltern entwerteten sich gegenseitig. Die Mutter war in ihrem weiblichen Selbstgefühl so verunsichert und oft traumatisiert, dass sie die Tochter als Halt brauchte. So wurde die Mutter der Studienrätin während der Vertreibung aus dem Sudetenland mehrfach vergewaltigt und daraufhin von ihrem Mann entwertet.

Christines Mutter wurde von ihrer eigenen Mutter abgelehnt und fand an dem alkoholkranken Vater keinen Halt. Die Mutter suchte die Zerstörung und Diffusion der eigenen Ideale dadurch zu bewältigen, dass sie die Tochter als erweitertes Selbst erlebte. Sie hielt an der frühen Symbiose fest; die Tochter wurde nie zu einem Du, sie blieb in einem Wir gefangen. Christines Mutter sagte etwa, wenn sie mit ihrer Tochter in einem Lokal speiste „das schmeckt uns nicht“, wenn sie mit der Tochter Kleider kaufte, „das ziehen wir nicht an!“ Eine andere dieser Mütter schrie einer Bekannten über die Strasse anlässlich der Geburt ihrer ersten Enkeltochter zu „Wir haben ein Kind!“ Der wechselseitige Ersatz virtueller und realer Liebeserfahrungen wird vom individuellen Problem zum kollektiven, seit Bilder überoptimaler Objekte in die Intimität der Wohn- und Schlafzimmer vorgedrungen sind. Während der Stalking „nach aussen“ auffällig, unerwünscht und inzwischen auch gesetzlich unter Strafe gestellt ist, sind zumindest die milden Formen der Phantasiebeziehung als Surrogat des wirklichen Lebens durchaus erwünscht. Sie sichern Einschaltquoten.

Die Münchner Künstlergruppe „Wahnsinn und Methode“ hat vor einigen Jahren Texte veröffentlicht, wie sie jeden Tag die Zuschauerredaktion eines deutschen Privatsenders erreichen. Das Medienprojekt mit dem Titel „Damit bin ich gemeint!“ erzählt Geschichten von Briefschreibern und Anruferinnen, aus denen deutlich wird, wie viele einsame Personen ihren Bedarf an Liebesbeziehungen in den Vorabendserien decken und in innere Nöte geraten, wenn ihre Lieblingssendung abgesetzt wird. Sie leben intensiv verbunden mit ihren Bildschirmobjekten oder sind überzeugt, dass eine Sendung – „damit bin ich gemeint!“ – eigentlich über ihr Leben spielt und fragen an, wann der Sender ihnen endlich das Honorar auszahlen wird, dass sie jeden Abend verdienen.

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