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Die Illusionen über das Gegenüber und die virtuelle Welt

Es ist ein unglaublicher Stress, Gegenstand unerwiderter Gefühle zu sein und keinen Glauben in der Aussage zu finden, dass die eigene emotionale Realität anders ist als unterstellt. Der Stalker scheut keine Mühe, keine Kosten, um sein Objekt zu kontrollieren. Er quält es dadurch absichtlich oder unabsichtlich, er triumphiert, wenn er eine Geheimnummer geknackt oder nach dem Umzug in eine anonymisierte Wohnung die neue Adresse herausgefunden hat. Aber er quält sich auch selbst. Er hofft, sein Opfer durch Erniedrigung und Selbstanklagen zu erweichen, er droht mit Selbstmord, riskiert seine Gesundheit, stilisiert Polizeistrafen zum Liebesdienst. Die wohl am meisten verbreitete Stalking-Strategie steht zwischen Sadismus und Autismus: Der Anruf, ohne ein Wort zu sagen. Stalker verwenden darauf oft sehr viel Zeit und lassen sich auch durch technische Kunstgriffe (wie eine Geheimnummer) nicht abhalten. Sie rufen zehn- ja hundertmal am Tag an – und sagen dann gar nichts. Sie wollen sich vergewissern, dass der Gegenstand ihrer fanatischen Sehnsucht dort ist, wo sie ihn vermuten. Die elektronische Verbindung wird zu einem Teil des eigenen Nervensystems. Wenn ich sie/ihn erreiche, gehört sie/er mir! Wenn das Opfer oder auch nur seine Stimme auf dem Anrufbeantworter sich meldet, genügt das in den meisten Fällen, um die Vorstellung von Beziehung zu beleben – aber eben nur für sehr kurze Zeit.

Der Geisteranruf gleicht dem Schreien des Säuglings insofern, als auch darin zunächst kein spezifisches Bedürfnis erkennbar ist. Vielmehr hat die Mutter zu wissen, was geschehen muss, damit dieses Schreien aufhört. Ganz ähnlich hat das Opfer der Geisteranrufe zu wissen, was zu geschehen hat, um den Anrufen ein Ende zu setzen. Sich den Telefonterror zu verbitten oder dem Geist am anderen Ende der Leitung gut zuzureden hat nicht mehr Sinn als ähnliches Vorgehen bei einem schreienden Säugling. Der Stalker verhält sich wie ein Säugling, er ist aber keiner. Daher ist es für Stalker auch möglich, wieder auszusteigen. Kann das Opfer dazu einen Beitrag leisten? Wenn wir einer Sucht begegnen, können wir eigentlich immer nur wenig tun, aber viel falsch machen.

Es ist herzzerreissend, für einen anderen Menschen so wichtig zu sein und ihn so wenig erreichen und umstimmen zu können. Das Wenige, was das Opfer tun kann, läuft darauf hinaus, sich konsequent abzugrenzen und beim geringsten Zeichen einer Drohung, einer Entgleisung in Gewalt die Polizei zu rufen. Vor allem ist es auch wichtig, sich von eigenen Schuldgefühlen zu befreien und sich klar zu machen, dass – erinnern wir an das Beispiel der Krankengymnastin – Freundlichkeit nicht deshalb „falsch“ ist, weil sie von einem Stalker fehlinterpretiert wurde.

Das fällt Betroffenen schwer, welche die Liebe idealisieren und sich nicht vorstellen können, dass es auch in der Liebe Fehler und Verbrechen gibt. Mit dem Selbstbild von Frauen, die sich nach einer perfekten Liebe sehnen, ist es kaum zu vereinen, auch der einseitigen Liebesbehauptung des Stalkers nicht mit eigenen Emotionen, eigenen hohen Werten zu begegnen. Die Polizisten zu rufen, die nicht immer durch besondere Einfühlung und Verständnistiefe aufzufallen pflegen, fällt dann den Opfern eines Stalkers schwer. Diese Lücke nutzt der Täter, um seinen Machtanspruch zu regenerieren. Dabei ist die Polizei nicht nur für das Opfer, sondern auch für den Täter eine Wohltat. Sie verkörpert das Monopol der Gewalt, das durch Gesetze geregelt ist. Fast jeder Erwachsene weiss, dass man mit der Justiz nicht spaßt. Aufgeblasene, drohende Männer verwandeln sich beim Anblick einer Uniform in harmlose Kumpel, die nur ein wenig Spaß gemacht haben, den ihre Ex-Freundin oder Ex-Frau nicht verstanden hat.

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