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Empathie, ersehnt und überschätzt

Ein interkultureller Chor, eine aus unterschiedlichen Nationalitäten zusammen gesetzte Fussballmannschaft oder einer der interkulturellen Gärten, welche von Jens Mittelsten Scheids Stiftung gefördert werden, sind Beispiele für soziale Orte, in denen Empathie gefördert wird. Wenn Schulen sich der Aufgabe stellen wollen, in den Klassen Einfühlung  zu vermehren, wäre ein fachübergreifendes Projekt sicher sehr viel angebrachter als eine Unterrichtseinheit mit diesem Titel.

Die Durchmischung der modernen Lebenswelt lässt Empathiemängel viel schärfer hervortreten als das Leben in der Enge traditioneller Dörfer, in denen jeder jeden kennt.  In einer arrangierten Ehe sorgen Eltern durch die Auswahl von Braut und Bräutigam dafür, dass dem Paar viele der Aufgaben erspart bleiben, welche die Liebenden der Moderne nur durch Einfühlung bewältigen können. Menschen, die sich professionell einfühlen müssen, etwa Schauspieler, Künstler, Unterhändler und Verkäufer, sind in der Regel scharfe Beobachter und geübt, ihrem Gegenüber zu signalisieren, dass sie sich für dessen Innenleben interessieren. Wer selbst Gefühle ausdrückt, ermutigt andere dazu, es ihm gleich zu tun.

Einfühlung ist ein spontanes Geschehen; wer sie erlernen will, muss nichts tun, sondern etwas geschehen lassen. Er muss starre Vorstellungen von richtig und falsch aufgeben und versuchen, in den Schuhen eines anderen zu gehen. Das ist nicht immer leicht, vor allem dann nicht, wenn dieser andere ein Feind ist. Vielleicht die verhängnisvollste Folge seelischer Traumatisierungen ist ein Verlust an Einfühlung. Beispiele dafür sind nicht nur die Kriegsheimkehrer, welche von ihren Kindern als unzugänglich, desinteressiert, verschlossen erlebt werden.

Je mühsamer es ist, sich eine soziale Rolle anzueignen und sie zu bewahren, desto weniger können alle, welche sie in Frage stellen, mit Einfühlung rechnen. Eltern, die sich anerkannt fühlen, können leicht auf den Nimbus ihrer Elternrolle verzichten, sich daran erinnern, wie es sich anfühlt, Kind zu sein, und dann ihre eigenen Kinder geschickter handeln, als es sie ein Dutzend Ratgeber lehren könnte.

Dieser Artikel erschien am 4.9.2010 in der Stuttgarter Zeitung

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