Wir sind ins Leben gesetzt, als in das Element, dem wir am meisten entsprechen, und wir sind überdies durch jahrtausendelange Anpassung diesem Leben so ähnlich geworden, daß wir, wenn wir stille halten, durch ein glückliches Mimikry von allem, was uns umgibt, kaum zu unterscheiden sind. Wir haben keinen Grund, gegen unsere Welt Mißtrauen zu haben, denn sie ist nicht gegen uns. Hat sie Schrecken, so sind es unsere Schrecken, hat sie Abgründe, so gehören diese Abgründe uns, sind Gefahren da, so müssen wir versuchen, sie zu lieben.
Psychologische Diagnosen gleichen Musikinstrumenten. Sie engen eine Vielfalt von Möglichkeiten ein, um praktische Vorteile zu gewinnen und eine sonst nicht greifbare Vielfalt handhabbar zu machen. Sie lehren uns etwas über die Vielfalt der Psyche, indem sie diese reduzieren, wie auch ein Instrument die Vielfalt der akustischen Möglichkeiten reduziert, uns gleichzeitig aber den Geist der Musik näher bringen kann – vorausgesetzt, wir wissen es zu spielen.
Wer von einer Hysterie oder einer Depression spricht, engt die Vielfalt menschlicher Möglichkeiten ein, um eine Person den vorhandenen therapeutischen Möglichkeiten zuzurüsten. Die meisten anderen Verwendungen sind voreilig und gefährden den Sinn des Ganzen, etwa die Hysterie-„Diagnose“ angesichts einer Ehefrau oder Mitarbeiterin, deren Gefühlsausdruck dem Ehemann oder Vorgesetzten „übertrieben“ erscheint. Auf diesem Weg hat der Hysteriebegriff so an Trennschärfe verloren, dass er in den neueren Manuals durch den Begriff einer histrionischen Störung ersetzt wurde.
Wer mit den begrifflichen Werkzeugen der psychiatrischen Diagnose nach Erklärungen sucht, sollte zunächst einmal die Problematik diagnostischer Systeme in der Nervenheilkunde bedenken. Da nur wenige der im Sprachgebrauch „nervös“ genannten Störungen naturwissenschaftlich belegte Substrate (von der Art des Tuberkel-Bazillus bei der Tuberkulose) haben, lässt sich hier Willkür nur schwer begrenzen. Es gibt Berichte, wonach sich die Zahl der Schizophrenie-Diagnosen in einer psychiatrischen Klinik nach dem Wechsel des Chefarztes halbiert oder verdoppelt hat. Dokumentiert ist auch, wie sich nach einem solchen Wechsel der Klinikleitung die Symptome selbst veränderten und einst sehr ernst genommene Krankheitsbilder buchstäblich verschwanden.
Statt einen Zugang zu erleichtern und das Verständnis für die künstlerische Produktivität zu vertiefen, erklären pathographische Modelle wie die von Lange-Eichbaum wenig bis nichts von der Persönlichkeit eines Dichters und vergrößern eigentlich nur das Rätsel, weshalb ein derart in seiner Pathologie gesehener, womöglich auf sie reduzierter Mensch Texte von solcher Kraft schaffen konnte. (…)
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