Neueste Artikel

Hinter Tugendmasken stecken oft Fanatiker

Mediengesellschaften entwickeln eine dekontextualisierte Ethik, die ich anschaulicher Helikoptermoral nenne. Dekontextualisiert heißt: Werte werden aus dem Zusammenhang gerissen. Sie werden zum Superlativ übersteigert, sobald sich Zweifel melden. Sie spalten den Blick auf die Welt. Statt das Zusammenleben der Menschen angemessen zu regulieren, wird diese Moral zu einem Mittel, einen Sturm der Entrüstung zu entfesseln, die eigene Geltung auf Kosten eines Denunzierten zu steigern und in der Folge Menschen zu zerstören.
Charakteristisch für die Helikoptermoral ist das schnelle, dramatische Urteil, das die klassische Gewaltenteilung völlig ignoriert: Anklage wird Schuldspruch. Ein Beschuldigter verliert Stellung und Ansehen, ehe die Vorwürfe geklärt sind. Die Helikoptermoral steht für eine Art moralischer Punktlandung, die mächtig Wind macht, alles durcheinanderbläst und oft mit Getöse so schnell wieder abhebt, wie sie landete. Sie gleicht in ihrer Theatralik und in ihrer Verweigerung von Übersicht, Versöhnung und Toleranz einem unblutigen Terrorismus.
Es geht nicht um einen Menschen, dessen Persönlichkeit so lange geschützt ist, bis die Schuldfrage geklärt werden kann, sondern es geht um die Interessen der Insassen in den Moralhelikoptern, die den Angeklagten missbrauchen, um ihre geltungsbedürftigen Urteile durchzusetzen. Gegenüber dem von den Helikopterflügeln aufgewirbelten Shitstorm ist der Gerichtssaal selbst für Menschen, deren Tätigkeit von der Öffentlichkeit geprägt ist, der reinste Fronturlaub.
So unfertig kann eine Ermittlung gar nicht sein, sie wird jemandem zugespielt und steht Stunden später im Internet. Sobald die Öffentlichkeit mit Vorverurteilungen getränkt ist, wird kaum ein Gericht noch wagen, ein Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen, weil die Beweislage für eine Anklage nicht ausreicht. Man will sich doch nicht dem Verdacht aussetzen, mit ungleichem Maß zu messen und den Sturm der Entrüstung auf sich selbst ziehen.
Die Schere zwischen einer gerechten Strafe für Verfehlungen und einem zerstörten Leben öffnet sich immer weiter. Das Moralgeschrei übertönt jede nüchterne Frage, was denn nun wirklich geschehen ist. In Zeiten der Helikoptermoral explodiert angesichts eines ersten Verdachts das bisher gesammelte Ansehen. Die Scherben treffen die Umstehenden, drohen ein paar weitere Karrieren zu ruinieren. Für die Schäden steht niemand grade.
Der deutsche Schriftsteller Günther Grass war als 17-Jähriger zur Waffen-SS eingezogen worden. Grass hatte nie behauptet, als junger Mann gegen die Nazis gewesen zu sein, im Gegenteil. Er betonte persönlich und beschrieb meisterhaft in der Blechtrommel, wie Großdeutschland nach außen im Inneren zur Verzwergung führte.
Was folgte, war ein moralischer Sturm, der vor allem um zwei Themen kreiste: Wir hätten ein Recht gehabt, es früher zu erfahren! Wer bei der SS war, wird für immer ein Nazi bleiben.
Es war, als hätte Grass an einem frühen Punkt seiner Biografie eine rote Fahne gehisst und einen weißen Kreis gezogen, den Landeplatz für die unterschiedlichsten Helikopter mit moralischer Fracht. Wenn es dem Schriftsteller auf Dauer wenig geschadet hat – es lag auf jeden Fall nicht an einem Mangel an moralischem Getöse und strafender Energie von Seiten seiner Sittenrichter.

„Komm! ins Offene, Freund!“

(Dieser Essay wurde für das Elbphilharmonie-Magazin 1/2017 zur Eröffnung des Hauses in Hamburg verfasst)

In dem Hölderlin-Vers steckt eine zentrale Aussage zur Psychologie der Offenheit: Sie ist bezogen auf den Freund, auf ein Gefühl, nicht allein aufzubrechen, sich nicht isoliert der Unsicherheit auszusetzen, sondern begleitet von Wohlwollen. Offenheit und vertrauensvolle Beziehungen gehören zusammen. Nun ist aber Vertrauen, wie Niklas Luhmann sagte, eine riskante Vorleistung. Wenn wir die aktuelle Situation in Europa betrachten, kann einem bange werden um die Zukunft der offenen Grenzen zwischen den Nationalstaaten, auf die wir eine Weile so stolz waren. Ähnliches gilt für die Offenheit für Verfolgte.

Wer sich aus Furcht verschließt, blockiert auch neue Erfahrungen. Wo diese Haltung überhand nimmt und sie nicht mehr ins Offene hinaus können, verkümmern die Künste. Sie brauchen den inneren Raum des Erlebens ebenso wie die Freiheit, sich in unerwartete Richtungen zu entwickeln. Sobald Politiker beginnen, den Künstlern Vorschriften zu machen, verkümmert die Kreativität. Die Ödnisse stalinistischer oder nationalsozialistischer Linientreue sind ein Beleg dafür.

In der Psychologie spricht man selten von Offenheit. Den Psychoanalytiker beschäftigt ihr Gegenteil weit mehr: Die Einengung angesichts von Ängsten, von Depressionen, von Sucht und manchmal auch von überwertigen Ideen. Das sind Seelenzustände, in denen die Betroffenen kaum mehr an etwas anderes denken können als an das Thema, auf das sie fixiert sind.

Das geläufigste Beispiel für Einengung ist die Drogenabhängigkeit. Sie vereinfacht und reduziert das Denken enorm. Alles dreht sich um ein einziges Thema, das wie der Ameisenlöwe auf dem Grunde eines Trichters sitzt und aussaugt, was hineinfällt. Die fünfzehnjährige Magersüchtige interessiert sich nur noch für Kalorien, sie weiß von jedem Lebensmittel, wie viel davon jeder Bissen in ihren dürren Körper bringt und was sie tun muss, um das zu verhindern. Der erste Gedanke des Alkoholikers, der mit zitternden Händen erwacht, der erste Gedanke des Heroinabhängigen sind berechenbar und trivial.

Ähnlich die Eifersucht. Von ihr geplagte Menschen denken in jeder freien Minute daran, was sie tun können, um eine andere Person dazu zu bringen, sie richtig zu lieben. Keine reale Erfahrung, kein vernünftiges Zureden schützt vor dieser aus Neid und Angst gemischten Qual.

Einengung ist das charakteristische Merkmal, das aus einer Alltagsphantasie ein böses Werkzeug schmiedet. Sie spitzt religiöse Vorstellungen zum Fanatismus zu und steigert die Kränkung gemobbter Schüler zum Amoklauf. Seelische Einengung gilt als wichtigste psychologische Voraussetzung für Mord und Selbstmord. Shakespeares Hamlet in die Rolle gelegter Monolog über To be or not to be wäre niemals so berühmt geworden, wenn wir diese Gefahren nicht nachvollziehen könnten:

Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel,


Des Mächtigen Druck, des Stolzen Misshandlungen,

Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,

Den Übermut der Ämter und die Schmach,

Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,

Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte


Mit einer Nadel bloß?

Der Dichter aber weitet die Sicht. Hamlet öffnet sich dem Gedanken, dass das Leben weitergeht, dass seine Mühen geschultert werden können, dass bekannte Übel erträglicher sind als unbekannte. In der Tat sind Selbstmordphantasien sehr häufig, Selbstmordversuche hingegen selten und oft ebenso Hilferuf wie Bedürfnis, quälenden Ängsten vor narzisstischer Kränkung ein Ende zu setzen. Offenheit ist in diesen Fällen lebensrettend, Einengung potenziell tödlich.

Eine neue Unfähigkeit zu trauern?

Wer von dem Berliner Anschlag hörte, dachte wohl zuerst: Jetzt auch bei uns! Obwohl schon im Januar 2016 die Bombe eines Terroristen in Istanbul zehn deutsche Reisende in den Tod riss, war Berlin verschont geblieben, anders als Paris, Brüssel oder Nizza. Was Anlass zu den folgenden Überlegungen gibt, ist der öffentliche Bezug zu den Opfern, der merkwürdig kühl und auch schwächlich erscheint, wenn wir ihn beispielsweise mit den Tagen in Frankreich nach dem Angriff auf Charlie Hebdo vergleichen.

In den Medien dominierte nach der Tat die Frage nach dem Versagen der Geheimdienste und der Polizei, die einem erkannten „Gefährder“ den Raum für sein Verbrechen ließen. In den politischen Internet-Foren, in denen die Rechten weit aktiver bloggen als alle anderen, war schon Stunden nach der Tat mit abstoßenden Metaphern („Blut an den Händen“) geklärt, dass die Bundeskanzlerin die „Schuldige“ für das Massaker ist.

Von Mitgefühl für die Opfer findet sich dort keine Spur, nur das vertraute Selbstmitleid, als würden die Toten und Verletzten auf einem Weihnachtsmarkt nur als Beweis für die eigenen Vorurteile kurz gebraucht und dann fallen gelassen. Aber auch die Reaktion des politischen Berlin erscheint kühl und karg, die einzelne Rose ein asketisches Symbol, die Kanzlerin, Innenminister und Bürgermeister vor der Gedächtniskirche niederlegten.

Vor fast fünfzig Jahren wurde schon einmal das deutsche Lebensgefühl mit dem Begriff einer „Unfähigkeit zu trauern“ verbunden. Das gleichnamige Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich gehört zu den am meisten missverstanden Texten dieser Zeit. Denn während bis heute die meisten überzeugt sind, in dieser Unfähigkeit zu trauern gehe es darum, dass die Deutschen nicht genügend bedauern, was sie den Opfern des Holocaust angetan haben, bezogen sich die Mitscherlichs auf die Unfähigkeit, um den Verlust des einst bewunderten, hochgelobten und von den Massen geliebten Führers zu trauern.

Die Deutschen fühlten sich 1945 in ihrer großen Mehrheit gerade nicht als Täter und Teilhaber an einer grandiosen Allmachtsphantasie, sondern als Opfer eines Führers, der sie missbraucht hatte. Die durch einen verlustreichen Krieg geschwächte und durch Abermillionen von Vertriebenen überlastete Nation fand den inneren Raum nicht, um sich dem Gedenken an die Opfer der eigenen Verbrechen zu stellen. Sie hatte nur Mitgefühl mit sich selbst. Gegenwärtig sieht es so aus, als sei diese Unfähigkeit zu trauern wieder auferstanden.

Im deutschen Unbewussten hat hier eine merkwürdige und historisch einzigartige Umkehrung stattgefunden. Die Täter erscheinen uns so fern und monströs, dass die unbewusste Fantasie im Streben nach einer Bewältigung des Schreckens nach den Opfern greift. Wer sich aber selbst als Opfer der Geschichte erlebt, für den liegt es auch näher, nicht um reale Opfer zu trauern und ihrer zu gedenken, sondern in Selbstmitleid zu versinken und sich zu wünschen, dass sich die Nation gegen eine böswillige Welt wie ein Igel zusammenrollt. Sind unter einer dünnen Schicht von Vernunft und Respekt vor historischen Tatsachen die Deutschen grundsätzlich Opfer geworden, jederzeit bereit, diese Identifizierung vorwurfsvoll nach außen zu richten? Waren sie nicht schon Opfer der betrügerischen Griechen, der disziplinlosen Südländer, jetzt der Flüchtlingsfluten?

Die Seele des Psychologen

Schmidbauer_Psychologen_RZ2.indd

»Denn erst sehr viel später kann Einsicht in das Geschehen wachsen

Es ist sein bislang persönlichstes Buch. Der renommierte Psychologe und Zeit-Kolumnist Wolfgang Schmidbauer schildert seine intensiven »Lehrjahre« als junger Mann – seine Studienzeit und seine literarischen Ambitionen in München, sein Leben als Aussteiger in der Toskana – und die krisenhaften Jahre seiner ersten Ehe. Mal ironisch, mal melancholisch, aber stets sehr freimütig erweckt der Autor das Lebensgefühl der Sechzigerjahre zu neuem Leben, thematisiert aber vor allem die eigene Hilflosigkeit angesichts der psychischen Erkrankung seiner Partnerin. Selten ist so offen von einem Psychoanalytiker über die Grenzen des eigenen Tuns, über das Scheitern der eigenen Profession, über die Verzweiflung des Nicht-weiter-Wissens gesprochen worden.

Die Autobiografie des Autors des Bestsellers »Hilflose Helfer« und bekannten Psychoanalytikers ist eine tiefgründige und offene Auseinandersetzung des professionellen Helfers mit den Ansprüchen und Grenzen des eigenen Handelns. Brillant geschrieben und selbstkritisch über eine besondere Liebe und eine Zeit des Aufbruchs. Es ist das ungewöhnliche Selbstporträt eines der Großen seines Fachs, dem so vieles möglich scheint und der schmerzhaft lernen muss, dass auch seine Fähigkeiten endlich sind.
(Verlagstext)

Bei Amazon bestellen

Massenmord als narzisstische Geste des 21. Jahrhunderts

Dieser Artikel erschien gekürzt und unter einem anderen Titel am 27.7.2016 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung

Nach Winnenden, Erfurt, Würzburg, nach Charleston und Columbine High School jetzt also auch München. „Sinnlose“ Massenmorde durch Halbwüchsige mit automatischen Waffen gehören zu den großen Gesten in den Konsumgesellschaften des 21. Jahrhunderts. Sie werden zunehmen und uns bedrohen, bis wir ein wirksames Gegenmittel finden.
Die meisten gewissenhaften Selbstbeobachter werden zugeben, dass ihnen Mordimpulse nicht gänzlich fremd sind. Kaum einer hat das in einer so schönen Mischung von Idylle und Schauder vorgetragen wie Heinrich Heine:

„Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwas sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt – ja man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.“ – H.Heine, Gedanken und Einfälle

Der Dichter bekennt sich zu seiner Mordlust gegen jene, die ihn gekränkt haben. Aber er nimmt die Tat nicht selbst in die Hand, er wünscht sich, dass ihm jemand die Henkersarbeit abnehmen möge. In der bürgerlichen Schicht hatte man damals noch Personal.
In den modernen Taten hat sich die Kränkungswut, die Heine durch seinen überraschenden Kontrast von Bescheidenheit und Mordlust ausfaltet, zu einem Knäuel verdichtet. Massenmörder ist eine Karriere geworden. Die meisten Täter schaffen sich durch die Tat aus der physischen Welt, hoffen aber auf unsterblichen Ruhm. Diese Formen des Massenmords sind wie eine Seuche. Sie breitet sich aus. Wenn wir eine Kurve der Zahlen von Tätern und Opfern zeichnen könnten, sie würde steil ansteigen.
Wo die Suche nach den Wurzeln der Tat etwas tiefer graben kann, entdeckt sie den Zusammenprall von Selbstgefühlskrisen mit dem als erlösend und ruhmreich imaginierten Endpunkt des Massenmordes. Psychologisch gesehen, geht es um die manische Abwehr einer drohenden Depression durch Rache an möglichst vielen, die sich nicht so mit der Realität quälen wie die Täter. Das vorherrschende Gefühl in der Konsumgesellschaft, das sich immer schlechter kanalisieren lässt, ist der Neid auf die Glücklichen. Vor vierzig Jahren waren in einer durchschnittlichen Oberschulklasse noch 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler mit ihrem Aussehen zufrieden. Heute ist sind das nur noch fünfzig Prozent. Sich kränken und gekränkt werden nehmen rapide zu, je intensiver uns die Bildschirme eine heile Welt voller schöner Menschen vorgaukeln, die attraktiv sind und attraktive Dinge tun.

Auf dem Weg in eine defensive Psychotherapie

Die ärztliche Heilkunde hat sich in den letzten Jahrzehnten in eine defensive Medizin verwandelt, und die Psychotherapie macht sich gerade auf den Weg, es ihr gleich zu tun. Schadenersatzprozesse und Medienkritik setzten seit geraumer Zeit Ärzte, Pharmaindustrie und Kliniken unter Druck. Der Arzt verschreibt ein Medikament; der Patient liest den Beipackzettel und nimmt es nicht: er hat Angst vor den Nebenwirkungen. Exakte Zahlen sich schwer zu gewinnen, aber Kenner schätzen, dass ungefähr die Hälfte der verschriebenen Medikamente in den Müll wandert.

Aber darf ein Arzt oder Apotheker empfehlen, den Beipackzettel des Medikaments nicht zu lesen, um nicht den negativen Suggestionen der dort pflichtgemäß verzeichneten Nebenwirkungen zu erliegen? Vermutlich nur unter der Hand. Wie lästig defensive Beratung werden kann, wissen inzwischen auch die meisten Bankkunden. Ich möchte einen Geldbetrag anlegen, weiß genau, was ich will und muss doch viel Zeit mit den Formalien vergeuden. Der Berater meiner Sparkasse will dokumentieren, dass er mich über alle Risiken aufgeklärt hat, und er ist ein pflichtbewusster Mann.
Der freundliche Augenarzt hat mir gesagt, dass die von ihm vorgeschlagene Staroperation eine winzige Komplikationsrate hat. Ich sehe ihr beruhigt entgegen, bis mir seine Sprechstundenhilfe ein Formblatt aushändigt, dessen Empfang ich quittieren soll. Darin steht, dass ich mich über die Gefahr einer Erblindung habe aufklären lassen. Ich schlafe nicht mehr so ruhig in den Nächten vor dem Eingriff.

Im Umgang mit den Bedürfnissen kranker Menschen widersprechen sich Justiz und Psychologie dramatisch. Die emotionale Situation eines Patienten ruft nach einem Helfer, der weiß was er tut und die Verantwortung für die vorgeschlagene Kur übernimmt, ohne Zweifel an ihr zu wecken und Ängste zu säen. Die Rechtsprechung geht von einem mündigen Bürger aus, dessen Interessen geschützt werden müssen, indem er vor der Entscheidung für eine bestimmte Behandlung über alle Risiken und Nebenwirkungen aufgeklärt wird.

Wir wissen heute viel über negative Suggestionen und „Nocebos“ –Kommunikationen, die dem Patienten schaden, weil sie in ihm die Überzeugung wecken, er sei schwer krank, gar unheilbar. Nocebos sind das Gegenteil der Placebos – jener chemisch trägen Stoffe, die allein dadurch wirken, dass ein Kranken an sie glaubt. Sie helfen bei Schmerzen und Schlaflosigkeit kaum weniger als „echte“ Medikamente. Nocebos hingegen werden in der Tat zum Gift, wenn ein Kranker die ärztliche Intervention negativ deutet.

Ein verbreitetes Nocebo ist die Röntgenaufnahme der Wirbelsäule. Der Rückenschmerzpatient wird auf einen Schaden hingewiesen und „weiß“ fortan, dass er Schmerzen haben „muss“. Es gibt eine Anekdote von einem prominenten Neurologen, der während einer Fortbildung eine Röntgenaufnahme zeigt und die anwesenden Ärzte nach den Symptomen fragt, die sie mit diesem Bild verbinden. Es wird ein schwer Arthrosekranker diagnostiziert, der sich vor Schmerzen kaum rühren kann und vermutlich dauernd bettlägerig ist. Vergnügt darauf der für sein Alter bewegliche Dozent: Liebe Kollegen, was sie gesehen haben, war die Aufnahme meiner Wirbelsäule.

Bereits 1905 hat ein anderer Arzt versucht, seinen Kollegen klar zu machen, wie ihr Verhalten bald als Nocebo, bald als Placebo wirkt:
Wir Ärzte, Sie alle treiben also beständig Psychotherapie, auch wo Sie es nicht wissen und nicht beabsichtigen; nur hat es einen Nachteil, daß Sie den psychischen Faktor in Ihrer Einwirkung auf den Kranken so ganz dem Kranken überlassen. Er wird auf diese Weise unkontrollierbar, undosierbar, der Steigerung unfähig. Ist es darum nicht ein berechtigtes Streben des Arztes, sich dieses Faktors zu bemächtigen, sich seiner mit Absicht zu bedienen, ihn zu lenken und zu verstärken? Nichts anderes als dies ist es, was die wissenschaftliche Psychotherapie Ihnen zumutet.
So Sigmund Freud 1905. Knapp hundert Jahre später wurden in Deutschland die psychologischen Psychotherapeuten Mitglieder der kassenärztlichen Vereinigungen, die auf Länderebene organisiert sind. Sie haben wie die Ärzte Kammern gegründet, müssen einen gesalzenen Beitrag für die Tätigkeit dieser Kammern bezahlen und sind dem entsprechenden Modernisierungsaufwand ausgesetzt, der – wie bei allen Verwaltungsapparaten – in einer steten Produktion von Vorschriften besteht. Wer diese Entwicklung verfolgt, beobachtet nach der bereits weitgehend vollzogenen defensiven Medizin, der defensiven Beratung in der Bank und dem defensiven Beipackzettel seines Heilmittels nun auch die Entwicklung einer defensiven Psychotherapie.

Die Bedeutung der Handarbeit für den Kopf

Der Mensch verdankt seine Intelligenz zum guten Teil den werkzeugschaffenden, geschickten Händen. Die freiwillige, selbstgesteuerte, die von wohlmeinenden und kundigen Eltern dem Kind auferlegte Handarbeit ist ein unverzichtbares Mittel, unseren Kontakt mit der Wirklichkeit zu verbessern, unsere Triebenergie in konstruktive Bahnen zu lenken und unsere Persönlichkeit zu entwickeln.

Die Bewertung von Handarbeit als „primitiv“ und geistesfern, die seit dem griechischen „Banausos“ für den Handwerker im abendländischen Denken nachweisbar ist, erscheint unter diesem Gesichtspunkt nicht nur töricht, sondern auch gefährlich. Sie gehört in eine vorindustrielle Epoche, in der es noch keine Kraftmaschinen gab, alle Menschen gehen oder reiten mussten und die Lebensform einer couch potato von heute undenkbar war. Der Mensch braucht ein gewisses Maß an körperlicher Anstrengung , um gesund zu bleiben. Für den Künstler ist der Widerstand der Materie ein ganz wesentlicher Anstoß von Kreativität. Handarbeit erfüllt Körper und Geist. Sie befriedigt beide, vor allem der Wechsel von Hand- und Kopfarbeit, bei dem die Kopfarbeit Ausruhen von der körperlichen Belastung bietet, die Handarbeit Regeneration der einseitigen Konzentration. Bewegung ist ein Lebenselixier. Wir sind nicht zum Sitzen geboren, sondern zur Tätigkeit, zum Sammeln und Jagen, zum Basteln und Probieren.

Handarbeit, die menschliche Gesundheit erhält, muss allerdings eine Bedingung erfüllen: sie muss als sinnhaft erlebt werden. Der amerikanische Sozialphilosoph Richard Sennett veröffentlichte 2008 ein Buch mit dem Titel Handwerk. Er beklagt, dass sich Akademiker in der Regel zu wenig auf die Welt der Dinge und die Bedeutung der Hände für den Kopf einlassen. Das handwerkliche Ethos guter Arbeit geht nicht allein dann verloren, wenn Menschen Maschinen zuarbeiten müssen und sich selbst auf einige immer gleiche Handgriffe reduziert sehen. Diese bereits von Karl Marx beklagten Entfremdungen der Arbeit in der Fabrik sind weitgehend aus den reichen Industrieländern verschwunden. Sie plagen jetzt die Entwicklungsländer.

Gegenwärtig hat die Konkurrenz um eine immer bessere Ausbeutung unserer Neigung zur Bequemlichkeit und zur Größenphantasie die menschliche Intelligenz dazu gebracht, möglichst viele Maschinen zu erfinden, die Hand, Kopf und Geist lähmen.

Wer Produktentwicklungen verfolgt, erkennt zwei Götzen, denen sie sich unterwerfen: Zeitersparnis und Atrophie von Muskulatur und Sinnestätigkeit. Dieser Raub an Lebenswichtigem wird durch das Versprechen legitimiert, wir hätten durch diese Erleichterungen Zeit gewonnen. Allerdings werden Sinnerleben und wohltuende Übung unseres Organismus nicht automatisch mit der Zeitersparnis mitgeliefert. Gesunde Menschen werden im Gegenteil so lange wie Behinderte behandelt, bis sie tatsächlich behindert sind. Wer lernt, ein Auto zu schalten, braucht kein Automatikgetriebe; er gewinnt dieser Tätigkeit oft das Gefühl eines engeren Kontakts zu seinem Fahrzeug ab. Wer aber von Anfang an das Fahren mit Hilfe eines automatischen Getriebes erlernt, findet es „gefährlich“, zu dem handgeschalteten Auto zurückzukehren. Der Schaltvorgang strengt ihn an, lenkt ihn ab, ist unbequem.

Wer erst einmal anfängt, die manuellen Beraubungen in der entwickelten Konsumgesellschaft zu erforschen, findet viele Beispiele. Die Handkurbel, um ein Auto anzuwerfen, der Trethebel, mit dem ein Motorrad gestartet werden kann – sie alle wurden durch „bequemere“ Lösungen ersetzt, die uns nicht nur einer Möglichkeit zur körperlichen Tätigkeit berauben, sondern Rohstoffe vergeuden und uns von störanfälligen Energiequellen abhängig machen.

Sexuelle Gewalt und männlicher Narzissmus

Die Silvesternacht in Köln, ein paar Wochen vor dem Karneval, Feierlaune, Betrunkene, die nicht vorsichtig genug mit ihren Böllern und Raketen umgehen – und plötzlich kippt die Szene, wird zum sexualisierten Mobbing, zur spontan organisierten männlichen Kriminalität gegen Frauen. In der Folge schrille Fragen nach dem Zusammenprall von Kulturen, dem Umgang mit Migranten. Auf Veranstaltungen der rechten Szene wird ein T-Shirt verkauft, auf dem eine Frau vor Männern flieht; Text: Rapefugees not welcome. Die Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof haben ein Phänomen nach Deutschland transportiert und unter ein politisches Vergrößerungsglas gelegt, das sich an vielen Orten in der Welt schon geraume Zeit beobachten lässt. In Indien wird eine Studentin in einem Bus vergewaltigt und gefoltert. In Nigeria leiden ganze Provinzen unter den Entführern und Vergewaltigern von Boko Haram. Die gang bangs in Elendsvierteln weltweit? Es scheint neue Hindernisse in der Zivilisierung der männlichen Sexualität zu geben, Rückschritte, die das Motto der Hippies von 1968 geradezu umdrehen. Wo es einst hieß make love not war, wird jetzt sexuelle Gewalt kulturkämpferisch instrumentalisiert.

Die Übergriffe signalisieren eine frauenverachtende Aggressivität; die sich frei bewegende Frau wird zum Sündenbock für sexuelle Defizite der Angreifer, für das Scheitern einer männlichen Omnipotenzphantasie.

Kastraten und Männer

Im europäischen Bildungsbürgertum gehört Beethovens neunte Sinfonie mit dem Chortext „Freude, schöner Götterfunken“ aus der Feder des zitatenträchtigsten deutschen Dichters Friedrich von Schiller zum Neujahrs-Ritual. Das sind, anders als die Böller der bösen Buben, die Töne, die man sich wünscht und gerne zelebriert. Aber derselbe Schiller hat in einem seiner frühen Gedichte über „Kastraten und Männer“ die latent aggressive Männlichkeit in einer Weise besungen, die uns gänzlich von der Illusion befreien könnte, solche Haltungen seien ausschließlich Eigentum krimineller Elemente aus Nordafrika. Ich zitiere einige Strophen, die den Ton treffen.

Zu Gottes schönem Ebenbild
Kann ich den Stempel zeigen
Zum Born, woraus der Himmel quillt
Darf ich hinunter steigen.

Und wohl mir, daß ich’s darf und kann!
Gehts Mädchen mir vorüber
Ruft’s laut in mir: Du bist ein Mann!
Und küsse sie so lieber.

Und röter wird das Mädchen dann,
Und ’s Mieder wird ihr enge –
Das Mädchen weiß, ich bin ein Mann
Drum wird ihr’s Mieder enge.

Fazit: Das Mädchen muss begeistert sein, endlich einen Mann zu sehen. Wenn es aber nicht begeistert ist?

Wie wird sie erst um Gnade schrein,
Ertapp ich sie im Bade?
Ich bin ein Mann, das fällt ihr ein,
Wie schrie sie sonst um Gnade?

Ich bin ein Mann, mit diesem Wort,
Begegn‘ ich ihr alleine,
Jag ich des Kaisers Tochter fort,
So lumpicht ich erscheine.

Schillers Gedicht ist nach der französischen Revolution und vor dem ersten „bürgerlichen Gesetzbuch“, Napoleons Code Civile entstanden. Der Dichter verarbeitet eine Situation, in der Männer und Frauen ihre Verhältnisse ebenso neu regeln müssen wie die Gefahren, dass diese entgleisen.

Der Kleiderbaum von Wolfsburg

In einem älteren Reisebericht über Australien habe ich die Geschichte steht die Geschichte vom Kleiderbaum gefunden. Sie hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen, weil sie einen kulturellen Abwehrmechanismus anschaulich macht, den ich auch aus der Familientherapie kenne: die Tochter kann sich nicht offen gegen die Mutter durchsetzen, die sie nach ihren Vorstellungen „korrekt“ einkleidet. So führt der Schulweg erst einmal in die heimische Garage oder zu einer Freundin, wo die zerissenen Jeans und das sexy T-Shirt versteckt sind.

Der australische Kleiderbaum steht irgendwo im Busch nahe einer Station, in der die Missionare den Eingeborenen Mehl und Zucker nur dann spenden, wenn diese „christlich“ bekleidet und nicht als nackte Heiden in den Gottesdienst kommen. Die Aborigines ziehen es an sich vor, nach der Sitte ihrer Ahnen zu jagen und zu sammeln. Aber sie wollen sich auch die Geschenke nicht entgehen lassen. Also kann jeder, der aus der Wildnis kommt, sich von dem Kleiderbaum das Zubehör holen, einen schicklichen Eindruck zu machen. Das lohnt sich.

An diese Geschichte habe ich auch gedacht, als die Manipulationen bekannt wurden, mit denen der mächtige VW-Konzern seine Dieselmotoren als viel zivilisierter und gesitteter ausgab, als sie in Wahrheit sind. Die automatische Inszenierung der Software erspart die persönliche Schwindelei, aber das Ergebnis ist im Prinzip ähnlich. Der große, international operierende Konzern hat einen Kompromiss gefunden, welcher der Chuzpe der Aborigines verblüffend ähnlich ist. Der Anschein einer Unterwerfung ist gerade so gut wie diese selbst! Schon sind die strengen (Abgas)Normen erfüllt, und was nachher auf Straßen und Autobahnen weiter geschieht, wird niemand bemerken. Im Gegenteil: der Missionar tut gut daran, die Regression seiner Bekehrten nicht wahrzunehmen, denn dann müsste er an der Wirksamkeit seiner Predigt zweifeln.

Jetzt ist der Kleiderbaum entdeckt, der plakativ schuldige Vorstandsvorsitzende ist zurückgetreten, die mittleren und kleineren Schwindler werden noch gesucht. Dem Bürger aber schwindelt vor der Frage, was das zu bedeuten hat und auf welche Szenen wir uns noch vorbereiten müssen. Ein Konzern, der zum guten Teil dem Staat gehört und öffentlich kontrolliert ist wie wenige andere, kann den Staat und dessen Gesetze so wenig ernst nehmen wie Heiden die Missionare, wie Kinder die Moralpredigten und Geschmacksurteile ihrer Eltern. Er kann so tun, als sei er einsichtig und umweltbewusst, als nehme er alle Auflagen ernst, erfülle sie auf dem Prüfstand pflichtbewusst und fast perfekt – um dann, kaum ist die Prüfung überstanden, die Sau herauszulassen.

Coaching in der Liebe

61309-8_Schmidbauer_Liebe.inddModerne Partner müssen sich gegenseitig unterstützen, um den Mangel an äußerem Halt in Traditionen auszugleichen.

Wolfgang Schmidbauer zeigt überzeugend und mit vielen Beispielen aus seiner langjährigen therapeutischen Praxis, wie Paare mithilfe der Erkenntnisse des Coachings Potenziale in der Liebe neu entdecken und für sich nutzen können. Der erste Schritt ist, sich selbst und auch den Partner neu wahrzunehmen. In der Unterstützung des Partners kann dadurch die eigene Persönlichkeit gestärkt werden. Liebe verwandelt sich so zu einem wechselseitigen Austausch persönlicher und beruflicher Entwicklung.

Bei Amazon bestellen