Vortrag auf der Jahrestagung der Heinrich-von-Kleist Gesellschaft in Berlin, November 2008
Jemanden wie Heinrich von Kleist würde man heute in die Psychiatrie stecken. Schon als Kind sei er, so ist es überliefert, ein nicht zu dämpfender Feuergeist gewesen – man hätte ihm heute das Zappelphilippsyndrom zugeschrieben, und Pillen gegen ADHS hätte er bekommen, um den krassen Wechsel zwischen Hyperaktivität und Depressivität ins Flussbett der Gewöhnlichkeit hineinzudämmen. Aber könnten wir dann dieses grandiose dichterische Werk bewundern?
So schreibt der Germanist Hermann Kurtze in einer Sammelrezension neuer Kleist-Biographien. Ich widerspreche dem. Kleists Verhalten wäre gegenwärtig nicht unproblematisch, gewiss. Vielleicht würde er wie manche unter den Hochbegabten auch die eine oder andere Borderline-Diagnose von einem medizinischen Sturkopf abkriegen, der nicht klug genug ist, um sich in eine komplizierte Seelenverwirrung einzufühlen. Aber er käme gewiss nicht in die Psychiatrie; vielleicht würde er sogar nach einer Lehranalyse selbst Psychiater oder Psychotherapeut.
Es würde sich zeigen, dass er in eine Gruppe junger Menschen gehört, die in der Moderne und Postmoderne umfangreicher geworden ist und sich vielleicht am besten in den Begriff der verlängerten Adoleszenz fassen lässt. Er war, nicht nur in seinem Werk, sondern auch in seiner Persönlichkeit, seiner Zeit zu weit voraus.
Kleists Problematik ist heute sozusagen Allgemeingut geworden. Während zu seiner Zeit Menschen sich entweder in feste Karrieren (und feste sexuelle Identitäten) pressen lassen mussten oder aus der Gesellschaft herausfielen, gibt es heute zahlreiche Hochbegabte, die neben einer grossartigen künstlerischen Produktivität im Alter von dreissig, ja vierzig Jahren ihren Platz im Leben so wenig gefestigt haben wie ein klares Bewusstsein darüber gewonnen, ob sie Wissenschaftler sind oder Menschen der Tat, Maler oder Dichter, mehr für Mathematik begabt oder für Sprachen, in einer hetero- oder in einer homosexuellen Beziehung leben wollen.
Das Konzept, mit dem sich die moderne Psychoanalyse diesen Personen nähert, ist das einer Störung des Selbstgefühls, des menschlichen Narzissmus.
Freud hat den Narzissmus-Begriff aus einer wissenschaftlichen Strömung gefischt, die um die Wende zum 20. Jahrhundert sehr in Mode war und von deren Kraft auch er profitierte: der Beschreibung und Klassifikation sexueller Verirrungen, mit denen die aufstrebende Psychiatrie nach gesellschaftlicher Geltung suchte.
Narzissmus ist nach den Vorarbeiten des deutschen Psychiaters Paul Näcke und des amerikanischen Psychologen Havelock Ellis als sexuelle Besetzung des eigenen Körpers definiert. Sie wird eher Frauen als Männern zugeschrieben und äußert sich darin, dass der Anblick von Körperteilen oder eines Spiegelbildes sexuell erregend wirkt und Selbstbefriedigung induziert.
Die Störung sei extrem selten, bemerkt Näcke um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er hatte den Begriff in die Nervenheilkunde eingeführt. Näcke gibt an, das Vollbild des Narzissmus unter 1500 untersuchten Psychiatrie-Patienten nur einige Male gefunden zu haben. Das liegt daran, dass Näcke ausdrücklich fordert, Narzissmus und Eitelkeit zu unterscheiden; Narzissmus in seinem Sinn liege nur vor, wenn jemand ausschließlich durch den Anblick des eigenen Körpers in sexuelle Erregung gelange.
Der Begriff orientierte sich also eng am griechischen Mythos, der von Kennern als „moralische Fabel“ eingestuft wird. Narziss ist dort ein Liebes-Verweigerer, der mit unerfüllbarer Selbstliebe gestraft wird und zu verschmachten droht, ehe er durch die Verwandlung in eine Blume erlöst wird, die sich – wie er – am Rand von Gewässern in diesen spiegelt.