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Eine neue Unfähigkeit zu trauern?

Die Deutschen scheinen sich besonders schwer zu tun im würdevollen Umgang mit den Opfern terroristischer Anschläge

Wer von dem Berliner Anschlag hörte, dachte wohl zuerst: Jetzt auch bei uns! Obwohl schon im Januar 2016 die Bombe eines Terroristen in Istanbul zehn deutsche Reisende in den Tod riss, war Berlin verschont geblieben, anders als Paris, Brüssel oder Nizza. Was Anlass zu den folgenden Überlegungen gibt, ist der öffentliche Bezug zu den Opfern, der merkwürdig kühl und auch schwächlich erscheint, wenn wir ihn beispielsweise mit den Tagen in Frankreich nach dem Angriff auf Charlie Hebdo vergleichen.

In den Medien dominierte nach der Tat die Frage nach dem Versagen der Geheimdienste und der Polizei, die einem erkannten „Gefährder“ den Raum für sein Verbrechen ließen. In den politischen Internet-Foren, in denen die Rechten weit aktiver bloggen als alle anderen, war schon Stunden nach der Tat mit abstoßenden Metaphern („Blut an den Händen“) geklärt, dass die Bundeskanzlerin die „Schuldige“ für das Massaker ist.

Von Mitgefühl für die Opfer findet sich dort keine Spur, nur das vertraute Selbstmitleid, als würden die Toten und Verletzten auf einem Weihnachtsmarkt nur als Beweis für die eigenen Vorurteile kurz gebraucht und dann fallen gelassen. Aber auch die Reaktion des politischen Berlin erscheint kühl und karg, die einzelne Rose ein asketisches Symbol, die Kanzlerin, Innenminister und Bürgermeister vor der Gedächtniskirche niederlegten.

Vor fast fünfzig Jahren wurde schon einmal das deutsche Lebensgefühl mit dem Begriff einer „Unfähigkeit zu trauern“ verbunden. Das gleichnamige Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich gehört zu den am meisten missverstanden Texten dieser Zeit. Denn während bis heute die meisten überzeugt sind, in dieser Unfähigkeit zu trauern gehe es darum, dass die Deutschen nicht genügend bedauern, was sie den Opfern des Holocaust angetan haben, bezogen sich die Mitscherlichs auf die Unfähigkeit, um den Verlust des einst bewunderten, hochgelobten und von den Massen geliebten Führers zu trauern.

Die Deutschen fühlten sich 1945 in ihrer großen Mehrheit gerade nicht als Täter und Teilhaber an einer grandiosen Allmachtsphantasie, sondern als Opfer eines Führers, der sie missbraucht hatte. Die durch einen verlustreichen Krieg geschwächte und durch Abermillionen von Vertriebenen überlastete Nation fand den inneren Raum nicht, um sich dem Gedenken an die Opfer der eigenen Verbrechen zu stellen. Sie hatte nur Mitgefühl mit sich selbst. Gegenwärtig sieht es so aus, als sei diese Unfähigkeit zu trauern wieder auferstanden.

Im deutschen Unbewussten hat hier eine merkwürdige und historisch einzigartige Umkehrung stattgefunden. Die Täter erscheinen uns so fern und monströs, dass die unbewusste Fantasie im Streben nach einer Bewältigung des Schreckens nach den Opfern greift. Wer sich aber selbst als Opfer der Geschichte erlebt, für den liegt es auch näher, nicht um reale Opfer zu trauern und ihrer zu gedenken, sondern in Selbstmitleid zu versinken und sich zu wünschen, dass sich die Nation gegen eine böswillige Welt wie ein Igel zusammenrollt. Sind unter einer dünnen Schicht von Vernunft und Respekt vor historischen Tatsachen die Deutschen grundsätzlich Opfer geworden, jederzeit bereit, diese Identifizierung vorwurfsvoll nach außen zu richten? Waren sie nicht schon Opfer der betrügerischen Griechen, der disziplinlosen Südländer, jetzt der Flüchtlingsfluten?

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