Wir können beobachten, wie ein im Schutz der Familie seiner Magersucht ausgeliefertes Mädchen beginnt mit Appetit zu essen, wenn es in einem Elendsviertel der Dritten Welt die karge Kost der Einheimischen teilen soll. Wir alle müssen, allein der Natur ausgesetzt, stabiler funktionieren, als im geschützten sozialen Raum.
Diese Beziehung zur Natur überträgt sich in günstigen Fällen auf die Personen im Arbeitsleben, zu denen wir in einer zweckmäßigen Beziehung stehen. Wo das nicht möglich ist und Liebes-Erwartungen geweckt werden, sind auch am Arbeitsplatz die narzisstischen Krisen gebahnt. Wer ein Brett hobelt, um einen Tisch zu bauen, wird nicht erwarten, dass das Brett von selbst auf die Hobelbank springt und sich so hinlegt, dass er mit der Faser arbeiten kann. An eine Person, in die ich mich eingefühlt und deren Bedürfnisse ich versucht habe zu erraten, werde ich Erwartungen richten, die mir in der Auseinandersetzung mit der materiellen Realität gar nicht in den Kopf kämen.
Wer ein Handwerk lernt, einen Garten pflanzt, Holz hackt oder Wasser schleppt, kann sich in dieser Tätigkeit festigen. Kein nachdenklicher Mensch wird den Wert der physischen Arbeit für die Stabilität des Selbstgefühls unterschätzen. Jede Stütze unseres Selbstgefühls, die lange genug funktioniert hat, hinterlässt in unserer Erinnerung eine Spur. Sie besteht noch, wenn wir die Austauschmöglichkeit verloren haben, aber sie festigt und entwickelt sich dann nicht mehr, wie auch totes Holz seine statische Aufgabe noch erfüllt.
Seit Normalkindheit ist, sich den Kopf mit immer schnelleren Folgen aufreizender Bilder füllen zu lassen, freut sich der Erzieher, wenn ein Kind soviel Disziplin aufbringt, dass es einen Abenteuerroman liest. So bescheiden sind wir geworden, dass Harry Potter allein deshalb als Zauberkünstler gilt, weil er die Kids wieder zum Lesen brachte.
Die technische Neuerung der blitzschnellen Programm-Abwahl erzeugt eine Welt, in der die Überzeugung grassiert, man könne abwählen, was lästig ist. Eine unerwünschte Realität wird augenblicklich und folgenlos durch eine andere ersetzt, die sich – hoffentlich! – besser zu unseren Bedürfnissen fügt. In unserem Umgang mit Beziehungen – „ich habe Schluss gemacht“, mit der Arbeit – „in diesem Job werde ich nicht alt!“ und mit Dingen – „ich kann diese Farbe nicht mehr sehen“ macht sich eine ex&hopp-Geste breit.
Das Versprechen des Zapping lautet: Du wirst Dich nie mehr langweilen! Aber die Realität sieht anders aus, denn wer sich auf dieses Versprechen verlässt, kann in eine Welt geraten, in der er sich im Gegenteil immer mehr langweilt und immer weniger Chancen sieht, diesem Gefühl zu entkommen.
Experten gingen vor zehn Jahren von einem Verhältnis von 11000 Schul- zu 15000 Fernsehstunden während der durchschnittlichen Kindheit aus. Heute hat sich die vor einem Bildschirm verbrachte Zeit noch ausgeweitet, aber auch diversifiziert; das Smartphone ist zum Auge der postmodernen Kyklopen geworden. Zeit, die unsere Großeltern mit körperlicher Arbeit verbrachten, füllen unsere Kinder damit, unerwünschte Bilder wegzuwischen oder wegzuzappen. Der in vergeblicher Hoffnung, im nächsten Bild, in der nächsten Nachricht etwas Besseres zu finden, in sinnlose Fragmente zerstückelte Tag ist ein Symbol eines modernen Lebensgefühls.
Die Konsumgesellschaft gibt ihren Kindern an Bildern alles, was zu haben ist. Die frühe Verwöhnung mit überoptimalen Bildern führt dazu, dass diese Kinder später, wenn sie den Unterschied zwischen Bild und Wirklichkeit begreifen, sich langweilen und oft sehr unglücklich sind, weil ihr eigenes Bild dramatisch gegen die geschönten Bilder abfällt, die sie auf dem Bildschirm finden. Was vor dreißig Jahren noch große Ausnahme war, ist heute unter Schülerinnen und Schülern am Gymnasium die Regel: Interesse für Diäten, für Schönheitsoperationen, Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen.