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„Komm! ins Offene, Freund!“

Zur Psychologie der Offenheit

(Dieser Essay wurde für das Elbphilharmonie-Magazin 1/2017 zur Eröffnung des Hauses in Hamburg verfasst)

In dem Hölderlin-Vers steckt eine zentrale Aussage zur Psychologie der Offenheit: Sie ist bezogen auf den Freund, auf ein Gefühl, nicht allein aufzubrechen, sich nicht isoliert der Unsicherheit auszusetzen, sondern begleitet von Wohlwollen. Offenheit und vertrauensvolle Beziehungen gehören zusammen. Nun ist aber Vertrauen, wie Niklas Luhmann sagte, eine riskante Vorleistung. Wenn wir die aktuelle Situation in Europa betrachten, kann einem bange werden um die Zukunft der offenen Grenzen zwischen den Nationalstaaten, auf die wir eine Weile so stolz waren. Ähnliches gilt für die Offenheit für Verfolgte.

Wer sich aus Furcht verschließt, blockiert auch neue Erfahrungen. Wo diese Haltung überhand nimmt und sie nicht mehr ins Offene hinaus können, verkümmern die Künste. Sie brauchen den inneren Raum des Erlebens ebenso wie die Freiheit, sich in unerwartete Richtungen zu entwickeln. Sobald Politiker beginnen, den Künstlern Vorschriften zu machen, verkümmert die Kreativität. Die Ödnisse stalinistischer oder nationalsozialistischer Linientreue sind ein Beleg dafür.

In der Psychologie spricht man selten von Offenheit. Den Psychoanalytiker beschäftigt ihr Gegenteil weit mehr: Die Einengung angesichts von Ängsten, von Depressionen, von Sucht und manchmal auch von überwertigen Ideen. Das sind Seelenzustände, in denen die Betroffenen kaum mehr an etwas anderes denken können als an das Thema, auf das sie fixiert sind.

Das geläufigste Beispiel für Einengung ist die Drogenabhängigkeit. Sie vereinfacht und reduziert das Denken enorm. Alles dreht sich um ein einziges Thema, das wie der Ameisenlöwe auf dem Grunde eines Trichters sitzt und aussaugt, was hineinfällt. Die fünfzehnjährige Magersüchtige interessiert sich nur noch für Kalorien, sie weiß von jedem Lebensmittel, wie viel davon jeder Bissen in ihren dürren Körper bringt und was sie tun muss, um das zu verhindern. Der erste Gedanke des Alkoholikers, der mit zitternden Händen erwacht, der erste Gedanke des Heroinabhängigen sind berechenbar und trivial.

Ähnlich die Eifersucht. Von ihr geplagte Menschen denken in jeder freien Minute daran, was sie tun können, um eine andere Person dazu zu bringen, sie richtig zu lieben. Keine reale Erfahrung, kein vernünftiges Zureden schützt vor dieser aus Neid und Angst gemischten Qual.

Einengung ist das charakteristische Merkmal, das aus einer Alltagsphantasie ein böses Werkzeug schmiedet. Sie spitzt religiöse Vorstellungen zum Fanatismus zu und steigert die Kränkung gemobbter Schüler zum Amoklauf. Seelische Einengung gilt als wichtigste psychologische Voraussetzung für Mord und Selbstmord. Shakespeares Hamlet in die Rolle gelegter Monolog über To be or not to be wäre niemals so berühmt geworden, wenn wir diese Gefahren nicht nachvollziehen könnten:

Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel,


Des Mächtigen Druck, des Stolzen Misshandlungen,

Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,

Den Übermut der Ämter und die Schmach,

Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,

Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte


Mit einer Nadel bloß?

Der Dichter aber weitet die Sicht. Hamlet öffnet sich dem Gedanken, dass das Leben weitergeht, dass seine Mühen geschultert werden können, dass bekannte Übel erträglicher sind als unbekannte. In der Tat sind Selbstmordphantasien sehr häufig, Selbstmordversuche hingegen selten und oft ebenso Hilferuf wie Bedürfnis, quälenden Ängsten vor narzisstischer Kränkung ein Ende zu setzen. Offenheit ist in diesen Fällen lebensrettend, Einengung potenziell tödlich.

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