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Das schwarze Gesicht (ebook)


Das schwarze Gesicht ist ein Roman über den letzten Eroberungskrieg in Afrika, den Mussolini gegen Äthiopien führte und verlor. Facetta nera, das schwarze Gesicht war das Lied der faschistischen Kämpfer, die sich nicht davor scheuten, das sonst überall tabuisierte Giftgas einzusetzen, um den Widerstand der Äthiopier zu brechen. Der Ingenieur Curci hat sich im Gaskrieg schuldig gemacht und sucht Erlösung in der Beziehung zu einer Amhara, seiner ehemaligen Sprachlehrerin. Die Verletzungen auf beiden Seiten scheinen zuerst der Liebe zu weichen, aber damit ist das Schicksal von Ugo und Paita noch nicht entschieden.

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Die Geheimnisse der Kränkung und das Rätsel des Narzissmus


Die Geschichte unserer persönlichen Entwicklung lässt sich immer auch als Kränkungsgeschichte schreiben. Je komplexer die Kultur wird, desto mehr Kränkungen müssen wir verarbeiten. Der Einsicht in dieses Geschehen steht die Verdrängung und Verleugnung menschlicher Kränkbarkeit im Weg, die in den Psychotherapien der Gegenwart eine ähnlich einflussreiche Rolle spielt wie die Verdrängung und Verleugnung sexueller Wünsche im ausgehenden 19. Jahrhundert, als Freud die Psychoanalyse begründete. Schmidbauer geht in seinem neuen Buch den unterirdischen Wegen des Kränkungsgeschehens nach und untersucht, weshalb manche Menschen Kränkungen so viel besser verarbeiten können als andere. Er beschreibt die Entwicklung des gesunden und des traumatisch überlasteten Narzissmus, deren Folgen zwischenmenschliche Konflikte ebenso prägen wie das Geschehen in einer Psychotherapie.

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Auf dem Holzweg

Dieser Text erschien leicht verändert in der Rubrik „Zur Seele: Erkundungen mit Schmidbauer“ im Neuen Deutschland, 2./3. Juni 2018

In Norwegen gehören mit Schindeln verkleidete Kirchen aus Holz zu den Sehenswürdigkeiten. Manche stehen seit dem Mittelalter am selben Platz. So hat es den Zeitungsleser doch verwundert, über die 1971 eingeweihte Kirche in Breitbrunn am Ammersee zu erfahren, dass ihr von Holzbalken getragenes Dach einsturzgefährdet ist. Die Kirche wurde gesperrt, vielleicht wird sie abgerissen, eine Sanierung wäre sehr teuer. Schuld an der Misere ist der Leim, und der Geist der Konsumgesellschaft war hier wieder einmal mächtiger als der heilige Geist, dem die Kirche geweiht ist.
Es ist so ein verflucht praktischer Gedanke, nicht mehr aus dem natürlich gewachsenen Langholz zu zimmern, sondern maschinell aus kurzen Stücken mit Hilfe von Säge-, Fräse- und Hobel-Maschinerie eindrucksvoll mächtig wirkende Balken herbeizuzaubern, die nur dem genauen Blick verraten, dass sie aus kürzeren Stücken zusammengepappt sind. Früher gingen die Zimmerleute in den Wald und schugen selbst das Holz, das sie für die damals in vielen Regionen vorherrschenden Fachwerkhäuser brauchten. Lange Zeit versorgten Flößer und Eisenbahnen die Holzhändler und Säger. Holz ist ein wunderabrer Baustoff, es hält bei guter Pflege viele Jahrhunderte.
Heute jedoch kommt viel Bauholz nicht mehr direkt aus dem Wald oder vom Lagerplatz des Holzhändlers, sondern aus der Fabrik. Kurze Stücke, die sich von den “Holzvollerntern” ohne menschliche Arbeitskraft aus dem Wald holen und einfach auf dem LKW transportieren lassen, werden geleimt, zugerichtet, gewiss auch mit einer Garantie versehen, dass sie statisch genauso gut sind wie das so umständlich in hohen Bäumen heranwachsende Holz aus den Wäldern. Der Bauingenieur findet das praktisch, der Bauherr versteht nichts von der Sache, die Baubehörde ist auf der Seite der Ingenieure und Fabriken, alle glauben an den Fortschritt, bis – wie 2006 in Bad Reichenhall geschehen – eine Eissporthalle einstürzt und 15 Menschen unter den Trümmern ums Leben kommen.
In Breitbrunn sind die Träger der Dachkonstrution mit einem ähnlichen Leim verklebt. Inzwischen ist klar geworden, dass ein Dach, das sich bald durch Sonnenstrahlen aufheizt, bald dem Kondenswasser ausgesetzt ist, dem verwendeten Holzleim im Lauf der Zeit seine Klebekraft raubt. In Bad Reichenhall wurde nach dem Unglücksfall über viele Jahre hin prozessiert; am Ende gab es eine Bewährungsstrafe für einen identifizierten Sündenbock.
In den Berichten steht dann nur zu lesen, es sei der falsche Leim gewesen, nicht ein Holzweg in der Holzwirtschaft.

Die Geschichte über das Leimholz ist ein Lehrstück über die Bereitschaft, die Gefahren industrieller Neuerungen nicht den Profiteuren, sondern den Nutzern aufzubürden. Wer dem Versprechen vertraute, dass er vergleichbare Qualität billiger haben kann, als sie das traditionelle Handwerk liefert, muss umständlich nachweisen, dass es nicht seine Schuld ist, wenn etwas schiefgeht. Selbst wenn ihm das gelingt, wird nicht der Produzent in die Haftung genommen und das Handwerk wieder in seine Rechte eingesetzt. Alle reden von dem falschen Leim und dem Versagen einer ordentlichen Leimkontrolle an den exponierten Stellen der Holzdächer, keiner davon, dass mit gewachsenem Holz und ordentlicher Handwerksarbeit ein solches Unglück nicht nur nicht passieren kann, sondern auch die Nutzer der Gebäude von den Ausdünstungen der Chemie verschont bleiben.
Denn das ist der zweite Skandal hinter dem ersten: die Holzindustrie arbeitet überall mit Leimen, Lösungsmitteln, Fungiziden und Pestiziden, welche die Nutzer bis heute belasten. Eine funktionierende Holzverwertung, die Umwelt und Gesundheit gleichermaßen schonte, ist ohne Bedenken, ohne Einwände durch Kontrollgremien durch eine ebenso unzuverlässige wie latent toxische Industrie ersetzt worden.
Können wir aus solchen Entwicklungen lernen? Was ist heute der Leim, der verspricht, uns eine bessere Welt zu kleben und sich dann auföst, bis uns die Decke auf den Kopf fällt? Sind es die sozialen Medien, die mit ihren likes gute Politik und gute Kunst aus Fragmenten pappen? Wir wissen es heute noch nicht, aber eines können wir mit großer Sicherheit vorhersagen: wenn das Gebäude einstürzt, wird es keiner gewesen sein.

Minenfeld oder Kreidekreis?

Dieser Essay erschien im Juli 18 leicht verändert unter dem Titel „Auf dem Weg zum verlässlichen Bürger“ in der Welt am Sonntag

Ehe der Fall Özil so durchgenudelt ist, dass keiner mehr etwas davon hören kann, sollte doch die Frage gestellt werden: Was können wir daraus lernen?
Als meine Großeltern heirateten, war es ein Skandal, dass sich eine katholische Kaufmannstochter in einen evangelischen Juristen verliebt hatte. Der Jurist musste zusichern, dass die gemeinsamen Kinder katholisch getauft wurden. Sonst drohte der Großmutter die Exkommunikation. Ich selbst habe im katholischen Passau noch eine Predigt gehört, dass Kinder aus „Mischehen“ spätestens in der zweiten Generation zu Heiden werden.
Hier sind wir inzwischen weiter. Unterschiedliche Konfessionen in einer deutschen Familie sind kein Anstoß mehr. Es ist selbstverständlich, dass sich ein Protestant in einer katholischen Familie integriert – und umgekehrt. Geteilte Loyalität zuzulassen, setzt eine stabile Mischung aus Respekt vor dem Individuum und Toleranz für Unterschiede voraus. Wenn das Ganze genießbar sein soll, gehört noch eine Prise Humor dazu. Gesunde Familien entwickeln sich durch eine stabile Mischung von Nähe zu den erfreulichen, Abstand zu den unerfreulichen Aspekten des Partners, seiner Eltern und Geschwister. Es ist eine verhängnisvolle Illusion, dass Integration ohne Abstand, ohne das Gemisch von Befremdung und Einfühlung in das Fremde gelingen kann.
Angesichts des Streits um die Fotos zweier Nationalspieler mit dem türkischen Präsidenten hat sich gezeigt, wie wenig wir bisher in der Lage sind, mit einer geteilten Loyalität umzugehen. Humorlosigkeit und Empathiedefizite lassen sich auf beiden Seiten beobachten. Wenn ich aus meiner eigenen Kultur heraus beleidigt werde, muss ich mich persönlich streiten. Wenn ich interkulturell beleidigt werde, kann ich „Rassismus“ schreien. Das wird ein Kampf mit ungleichen Mitteln, denn wer ist nicht gegen Rassismus?
Es ist unrealistisch, vom Sohn eines patriotischen Türken zu verlangen, er hätte Erdogan so sehen müssen, wie es eine deutsche Mehrheit tut. Es ist für einen ehrgeizigen jungen Mann schwer genug, die Wärme seiner türkischen Familie gegen die Kälte zu tauschen, die unser mitteleuropäisches, manchmal gnadenloses Leistungsdenken auszeichnet. Er wird danach streben, sich möglichst viel von dieser Wärme zu erhalten, auch wenn er genau weiß, dass sein Platz nicht in dem Dorf am Schwarzen Meer ist, aus dem seine Eltern kommen, sondern mitten in eben dieser Leistungsgesellschaft.
Wer viel Erfolg hat, mag glauben, dass die geerntete Anerkennung ein Zeichen dafür ist, dass er wirklich dazu gehört. Er rechnet nicht mehr damit, dass die feine Linie immer bleiben wird, die ihn von denen trennt, die schon immer da waren. Gemeinsamer Erfolg schafft Schönwetterbeziehungen. Er neutralisiert Aggression und Neid. Die wirklich Qualität einer Beziehung zeigt sich erst unter Stress.
Tiefe Kränkung, Gefühle von Verfolgung und Verrat sind zu erwarten, wenn ein Star, der in seinem Erleben kein Unrecht findet, plötzlich von einem wichtigen Geldgeber ausgegrenzt wird. Man kann sich vorstellen, was es Özil bedeutet hat, Werbeträger für Mercedes zu sein – und wie viel Einfühlung und Geduld es gekostet hätte, ihm zu vermitteln, dass die Entscheidung gegen ihn nicht rassistisch gemeint war.
Wer die menschliche Psyche erforscht, beobachtet immer wieder, wie gut Menschen ein karges Leben verkraften – und wie viel Wut entsteht, wenn ihnen etwas weggenommen wird, dessen sie sich sicher glaubten. Der millionenschwere Manager wird nach einer Kränkung ebenso depressiv wie der einfache Polizeibeamte, dem eine Beförderung verweigert wurde. Daher ist die Bemerkung des deutschen Außenministers empathiearm, ein Multimillionär, der im Ausland lebe und arbeite, sei kein Modell für Integration in Deutschland. Klarer lässt sich kaum formulieren, was nach den vielen seelischen Opfern einer Anpassungsgeschichte besonders bitter enttäuscht: So lange wir dich brauchen können, bist du Vorbild. Aber wenn es uns nicht mehr passt, wollen wir dich nicht mehr dabei haben.
Wahrscheinlich hat Özil das verbale Gewitter nicht selbst verfasst, das sich in seinem Namen über dem Deutschen Fussballbund und seinem Präsidenten entladen hat. Auf jeden Fall aber ist die Richtung lehrreich, in die sich seine Wut bewegt. Am meisten versagt hat in seinen Augen die Vaterfigur. In der Tat ist ein Präsident, der Schweigen nur als Versagen oder Trotz deutet und an Trauer oder Hilflosigkeit nicht einmal denkt, keine gute Vaterfigur.
Ein erfahrener Politiker wie Reinhard Grindel hätte sich mehr einfallen lassen müssen als darüber zu klagen, dass ein politisch unkundiger Fußballspieler schweigt, statt über eine Krise zu kommunizieren, die seine Aktion im Spannungsfeld zwischen türkischen und deutschen Populisten ausgelöst hat.
Grindel hätte eine Vaterfigur sein können, die den Sohn auffängt, berät, ihn so gut wie möglich unterstützt. Er hätte auf Özil zugehen, sich mit ihm beraten müssen. Wie viel interkulturelle Ahnungslosigkeit ist da „normal“ geworden, wenn Funktionäre keinen Gedanken an den Seelenzustand eines jungen Mannes mit türkischen Wurzeln verschwenden, für den Respekt vor Vätern und Schutz durch Väter selbstverständlich sind?
Dieses Spiel hat leider Erdogan gewonnen – nicht weil er so gut ist, sondern weil seine Gegner nicht einmal den Ball gefunden haben. Der polternde Uli Hoeneß hat noch ein Eigentor geschossen, als er Özil als Fußballer schlecht machte. Prompt haben Journalisten recherchiert und Hoeneß der fake news überführt. Özil hat auch 2018 noch weit mehr als die Hälfte seiner Zweikämpfe gewonnen.
In dem politischen Spiel, in das der türkisch-deutsche Profi geraten ist, gibt es weder Regeln noch einen Schiedsrichter und nicht selten zwei Verlierer. Solange Özil seine türkischen und deutschen Wurzeln ungestört wachsen lassen konnte, ist er gut gediehen. Die Schwierigkeiten begannen, als an ihm gezerrt wurde – auf der einen Seite von einem türkischen Präsidenten, dem jedes Mittel recht ist, einen Wahlkampf zu führen, auf der anderen Seite von einer deutschen Öffentlichkeit, die mit geteilten Loyalitäten nicht umgehen kann.
Die Lehre aus dem Geschehenen könnte sein, dass wir uns im interkulturellen Umgang mehr Raum geben. Einfühlung benötigt Zeit, sie kann sich erst entfalten, wenn Unsicherheit zugelassen wird und nicht die hektische Suche nach einem Schuldigen vom Druck der Ängste entlasten muss, etwas falsch eingeschätzt zu haben.
Vielleicht sollten wir uns öfter an die Fabel vom Kreidekreis erinnern, in dem ein verletzliches Geschöpf steht, das von zwei Mächten beansprucht wird. In der klassischen (chinesischen, in Brechts Fassung bekannt gewordenen) Fassung der Geschichte sind es zwei Mütter, eine liebevolle und eine ehrgeizige. Und obwohl die Machthungrige sich erst einmal durch ihre Rücksichtslosigkeit durchsetzen kann, verliert sie am Ende, weil sie nicht loslassen, sich nicht einfühlen kann oder will.
Ähnlich sollte Deutschland nicht an den Menschen mit Migrationshintergrund zerren, um sie für sich zu gewinnen. Sie einfühlend auch einmal loszulassen, schafft verlässlichere Bürger als Druck, Zwang oder Schelte.

Zu diesem Thema ist aktuell im Murmann Verlag das gleichnamige Buch „Helikoptermoral“ erschienen.

Weil er es tun kann

Die ersten Schüsse wurden bei dem Massaker in Las Vegas als Teil der Veranstaltung missverstanden – ein Trommelwirbel, der Beginn des Feuerwerks, mit dem solche Festivals oft beendet werden. Viel zu spät bemerkten die Teilnehmer, dass etwas nicht stimmte. Minutenlang schoss der 64 Jahre alte Stephen Paddock aus dem 32. Stockwerk eines Hotels auf Menschen, die tief unter ihm wimmelten. Er konnte aus dieser Entfernung nicht genau zielen, aber das ist bei Maschinengewehrfeuer auch nicht nötig. Manchmal gab es Pausen – er brauchte sie zum Nachladen der Schnellfeuerwaffen.
Zunächst reklamierte die Terrormiliz IS die Tat für sich. Aber Paddock kämpfte für kein fassbares Ziel. Sein Bruder Eric beschreibt ihn als wohlhabenden Einzelgänger ohne ausgeprägte politische oder religiöse Überzeugungen. Die Nachbarn in seinem Wohnort, einer Kleinstadt 120 Kilometer nordöstlich von Las Vegas, zeichnen einen zurückgezogenen, unfreundlichen Buchhalter, der keine Freunde hatte. Auch seine Freundin weiß von nichts.
Wenig Freunde, viele Waffen. Paddock hatte vier Tage lang Taschen mit insgesamt 23 Waffen und vielen Tausend Patronen auf sein Zimmer geschleppt. In seinem Auto findet die Polizei Zutaten für den Bau von Bomben, in Paddocks Haus weitere Schnellfeuerwaffen und Massen von Munition. Was sie nicht findet: ein Motiv für die Tat.
Aber wie viel Sinn macht es, nach solchen Motiven zu suchen? Es war ein grausam erweiterter Selbstmord, in dem sich ein Konglomerat aus Menschenhass und Selbsthass manifestiert, den keine Lebensgeschichte, kein Trauma, keine innere Not wirklich erklären kann. Wenn sich Paddock hätte festnehmen lassen und sich wie damals Breivik in Norwegen in wirren, selbstbezogenen Erklärungen ergangen hätte – um wie viel wären wir klüger? Was könnten wir tun, um solche Taten zu verhindern?
Die in der menschlichen Tragödie der Opfer verborgene politische Tragödie ist die Blindheit der Politik gegenüber einer Waffenindustrie, die leugnet, wie mächtig die Verführung zum Massenmord allein durch Möglichkeit ist, ihn zu vollziehen. Praktisch reduziert sich die Frage nach Motiven auf eine schlichte Frage und eine ebenso schlichte Antwort: Warum hast du das getan? Weil ich es konnte!
Die US-Waffenlobby hat 30 Millionen Dollar in den Wahlkampf Donald Trumps investiert; er hat im Gegenzug versprochen, das in der Verfassung verankerte Recht des Amerikaners auf eine Feuerwaffe zu erhalten. Mindestens 300 Millionen Schusswaffen befinden sich heute in den USA in Privatbesitz. Wenn Barack Obama nach einem der vielen Vorgänger des Massakers von Las Vegas davon sprach, endlich etwas zu unternehmen, schossen die Verkäufe in die Höhe. Vorratswirtschaft, Umsatzsteigerung – und dann doch kein Verbot.
Einschränkungen wurden nur bei Personen diskutiert, die sich in psychologischer Behandlung befinden. Dieses Verbot ist diskriminierend. Es straft die Einsichtigen, die sich behandeln lassen, und leugnet die Gefahren, die von den Uneinsichtigen ausgehen. Immerhin hat das Massaker in Las Vegas ein Argument nachhaltig entkräftet, mit dem Republikaner sämtliche Vorstöße blockieren: Gegen einen Schützen könne man sich nur wehren, indem man sich selbst bewaffnet.
Caleb Keeter, Gitarrist der Westernmusiker Josh Abbott Band, die am Abend spielte, war bisher ein Waffenfreund und hatte Schießeisen im Bus. „Hätten wir sie geholt, hätte uns die Polizei womöglich für Täter gehalten“ schrieb er im Internet. Ein Chaos wäre ausgebrochen. „Wie konnten wir nur alle so blind sein“, fragt Keeter. Der zweite Verfassungszusatz stammt aus dem Jahr 1791. Er bezieht sich auf Gewehre und Pistolen, die man sorgfältig einzeln laden musste, um einen Schuss abzugeben.
Für die Jagd und den Sport wären solche Waffen völlig ausreichend. Sie würden auch dem Wild eine faire Chance geben. Schnellfeuergewehre, wie sie Paddock und alle seine Vorgänger verwendeten, sind reine Kriegswaffen, unsportliche Mordmaschinen, deren Fortschritt unter anderem darin liegt, dass in einer Minute Munition für über tausend Dollar verballert werden kann. Das steigert den Umsatz der Waffenindustrie – und kostet Menschenleben.

Das gebrochene Schweigen

Als Psychoanalytiker bin ich Mitglied eines Berufs und in gewisser Sicht auch einer Bewegung, die dem Schweigen, besonders dem Schweigen in sexuellen Dingen kritisch gegenüber steht. Freud hat von der heilsamen Wirkung der talking cure geschrieben und seine Zeitgenossen herb kritisiert, weil sie die Realität der Erotik und die Gefahren des sexuellen Missbrauchs verleugneten. In einer seiner Vorlesungen an der Clark-Universität („Über Psychoanalyse“, Nr.4) sagte er: Die Menschen sind überhaupt nicht aufrichtig in sexuellen Dingen. Sie zeigen ihre Sexualität nicht frei, sondern tragen eine dicke Oberkleidung aus — Lügengewebe zu ihrer Verhüllung, als ob es schlechtes Wetter gäbe in der Welt der Sexualität. Und sie haben nicht unrecht, Sonne und Wind sind in unserer Kulturwelt der sexuellen Betätigung wirklich nicht günstig; eigentlich kann niemand von uns seine Erotik frei den anderen enthüllen.

Das gilt ganz besonders für die inzwischen aufgedeckten Fälle von sexuell getöntem Machtmissbrauch in der Welt der Medien. Erotik wurde in den beschrieben Szenen nicht kommuniziert und spielerisch in beiderseitigem Einverständnis entwickelt, sondern als phallische Geste aufgezwungen. Man kann verstehen, dass viele Opfer erst einmal zu erschrocken sind, um sich zu wehren. So lassen sie den Tätern Raum für ihren primitiven Exhibitionismus – und wehren sich nicht gegen das gemeinsame Lügengewebe. In den aktuellen #metoo und #wetoo-Bewegungen wird nun das bisherige Schweigen gebrochen.
Diese Rede vom gebrochenen Schweigen scheint mir nun aber ebenfalls weit entfernt von einem offenen, empathischen Umgang mit sexuellen Fragen. Sie nimmt manchmal so überhand, dass ich auf den bizarren Gedanken komme, ein gebrochenes Schweigen in die Notaufnahme zu bringen und den Bruch mit Schiene oder Gipsbinde zu schützen, damit er möglichst schnell und komplikationslos heilt. Woher nur kommt diese latent gewalttätige Formulierung – Schweigen zu brechen, wie ein Knochen bricht, wie Vertrauen bricht, wie ein Mensch durch einen Schicksalsschlag zerbricht?
Ist in solchen Fällen das Sprechen gegen einen Widerstand, einen Widerwillen erzwungen? Wer mit sexuell verletzten Menschen zu tun hat, begegnet nicht selten dem Wunsch, ein gebrochenes Schweigen wieder heilen zu können. Sie haben in einer Arbeitsgruppe, im Bekanntenkreis, unter Freunden von Verletzungen, von Übergriffen, von Missbrauch erzählt. Aber die so preisgegebenen Inhalte wurden nicht einfühlend und taktvoll aufgenommen. Das Opfer fühlt sich nicht unterstützt, sondern diskriminiert.
Wir wissen im Einzelfall nicht, ob es klüger ist, über Verletzungen des Selbstgefühls nur in Situationen der Schweigepflicht (wie die Arztpraxis, die Psychotherapie) oder aber öffentlich zu sprechen. Wir können nur versuchen, die Fragestellung etwas zu vertiefen. Falsch sind gewiss Polarisierungen: Reden ist gut, Schweigen schlecht. Reden schafft Übel aus der Welt, Schweigen konserviert sie. Reden dient den Opfern, Schweigen schützt die Täter.
Warum betonen, dass ich das Schweigen breche? Es ist eine Inszenierung, die Spannung erzeugt und dem Zuhörer vermittelt, dass er jetzt etwas ganz Besonderes zu hören bekommt, dass ein Geheimnis verraten, eine Verschwörung („des Schweigens“) aufgedeckt wird. Leider ist es ein modernes Märchen, dass der Bruch seines Schweigens per se einen Menschen persönlich wie sozial weiterbringt. Manchmal stimmt eher das Gegenteil. Dann entspricht die Situation bis in die riskanten und schmerzlichen Einzelheiten dem Knochenbruch. Die Bruchstellen können sich durch unachtsamen Umgang infizieren, die Folgen dann eine Heilung verzögern und den Organismus aus dem Gleichgewicht bringen.
Bisher in ihrem Schweigen Geborgene warten vergeblich darauf, dass sich Erleichterung und geistige Befreiung einstellen. Sie haben aus Gründen geschwiegen, die vielleicht nicht gut waren, aber doch ganz und gar ihnen gehörten. Jetzt werden sie in eine Öffentlichkeit gezerrt, deren Akteure nicht ihr Wohl im Auge haben, sondern die eigene Geltung und womöglich auch die klammheimliche Freude daran, sich selbst in der Entwertung dessen aufzuwerten, was durch den Bruch öffentlich geworden ist.
Die Mediengesellschaft ist zugleich schamloser und prüder geworden. Auf der einen Seite grassiert Pornographie in allen Variationen, auf der anderen Seite beschädigt bereits der Verdacht sexueller Verfehlungen Ruf und Karriere. Die dicke Schicht von Lügengewebe ist an manchen Stellen undurchdringlicher geworden, an anderen durchsichtiger. Wenn Freud gehofft hat, die Psychoanalyse würde dazu führen, dass eine befreite erotische Kultur auf dieses Lügengewebe verzichten kann, hat er sich geirrt.

Erschienen im Neuen Deutschland in der Kolumne „Psychologisch gesehen“ am 18/19. November 2017

Raubbau an der Seele

Der moderne Mensch betreibt doppelten Raubbau – an seinen physischen wie psychischen Ressourcen. Zu Verschmutzung und Übernutzung unserer Um-Welt gesellt sich immer öfter eine lähmende Erschöpfung des Ich; aus Homo sapiens wurde Homo consumens, dem Überfluss folgte Überdruss. Im Umgang mit der Überforderung, die viele Ursachen kennt – Perfektionismus, Schnelllebigkeit, Gier –, zeigen sich verschiedene Facetten: die einen reagieren mit Burnout und Depression, die anderen mit aggressiven Verhaltensweisen wie Mobbing, Narzissmus oder schlichter Wut.

Verleugner sind sie alle: Statt Probleme als Teil des Lebens zu begreifen, suchen wir Befriedigung im schnellen Konsum oder greifen zur Pille. Dabei ist es längst an der Zeit, unser Leben wieder mit Sinn zu füllen, so Schmidbauer: handwerkliches Tun wäre ebenso ein Rezept wie Entschleunigung und die Aufwertung sozialer Kontakte. In der Summe gewännen wir so »psychische Resilienz« und damit jene Energie, die wir benötigen, um uns den Herausforderungen unserer Zeit stellen zu können.

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Der Mensch als Bombe – explosiver Narzissmus

Auszug:
Da Eis nur ein wenig leichter ist als Wasser, sehen wir neun Zehntel eines Eisberges nicht. Die Spitze des Eisbergs ist ein Bild für die erdrückende Übermacht des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren. Sie ist ein Hinweis auf die trügerischen Gewissheiten unserer Wahrnehmung, auf die Illusion, wir hätten mit unserem Blick auf das treibende weiße Gebilde das Wesentliche bereits erfasst und könnten nun daran gehen, ihm auszuweichen.
Die Spitze des Eisberges ist auch eine Metapher für unsere Psyche: nur ein Bruchteil dessen, was sich in ihr abspielt, wird uns bewusst. Wir wissen wenig, ahnen so manches, müssen uns öfter, als es uns lieb ist, mit dem Wissen um unser Nichtwissen zufrieden geben, das uns seit Sokrates mehr befriedigt als die fromme Illusion.
Die Ereignisse am 11.September 2001 sind für mich nach und nach ebenfalls zur Spitze einer viel umfassenderen und auch bedrohlicheren Erscheinung geworden. Ich nenne sie den explosiven Narzissmus. Unter Bedingungen, die sicher nicht leicht zu erforschen sind, die im Dunkeln liegen und deren Formen mit ihrer Umgebung verschmelzen, kann der Mensch explodieren. Er verliert jede Struktur, wird unberechenbar, vernichtet andere oder sich selbst. (…)

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Hinter Tugendmasken stecken oft Fanatiker

Mediengesellschaften entwickeln eine dekontextualisierte Ethik, die ich anschaulicher Helikoptermoral nenne. Dekontextualisiert heißt: Werte werden aus dem Zusammenhang gerissen. Sie werden zum Superlativ übersteigert, sobald sich Zweifel melden. Sie spalten den Blick auf die Welt. Statt das Zusammenleben der Menschen angemessen zu regulieren, wird diese Moral zu einem Mittel, einen Sturm der Entrüstung zu entfesseln, die eigene Geltung auf Kosten eines Denunzierten zu steigern und in der Folge Menschen zu zerstören.
Charakteristisch für die Helikoptermoral ist das schnelle, dramatische Urteil, das die klassische Gewaltenteilung völlig ignoriert: Anklage wird Schuldspruch. Ein Beschuldigter verliert Stellung und Ansehen, ehe die Vorwürfe geklärt sind. Die Helikoptermoral steht für eine Art moralischer Punktlandung, die mächtig Wind macht, alles durcheinanderbläst und oft mit Getöse so schnell wieder abhebt, wie sie landete. Sie gleicht in ihrer Theatralik und in ihrer Verweigerung von Übersicht, Versöhnung und Toleranz einem unblutigen Terrorismus.
Es geht nicht um einen Menschen, dessen Persönlichkeit so lange geschützt ist, bis die Schuldfrage geklärt werden kann, sondern es geht um die Interessen der Insassen in den Moralhelikoptern, die den Angeklagten missbrauchen, um ihre geltungsbedürftigen Urteile durchzusetzen. Gegenüber dem von den Helikopterflügeln aufgewirbelten Shitstorm ist der Gerichtssaal selbst für Menschen, deren Tätigkeit von der Öffentlichkeit geprägt ist, der reinste Fronturlaub.
So unfertig kann eine Ermittlung gar nicht sein, sie wird jemandem zugespielt und steht Stunden später im Internet. Sobald die Öffentlichkeit mit Vorverurteilungen getränkt ist, wird kaum ein Gericht noch wagen, ein Verfahren wegen Geringfügigkeit einzustellen, weil die Beweislage für eine Anklage nicht ausreicht. Man will sich doch nicht dem Verdacht aussetzen, mit ungleichem Maß zu messen und den Sturm der Entrüstung auf sich selbst ziehen.
Die Schere zwischen einer gerechten Strafe für Verfehlungen und einem zerstörten Leben öffnet sich immer weiter. Das Moralgeschrei übertönt jede nüchterne Frage, was denn nun wirklich geschehen ist. In Zeiten der Helikoptermoral explodiert angesichts eines ersten Verdachts das bisher gesammelte Ansehen. Die Scherben treffen die Umstehenden, drohen ein paar weitere Karrieren zu ruinieren. Für die Schäden steht niemand grade.
Der deutsche Schriftsteller Günther Grass war als 17-Jähriger zur Waffen-SS eingezogen worden. Grass hatte nie behauptet, als junger Mann gegen die Nazis gewesen zu sein, im Gegenteil. Er betonte persönlich und beschrieb meisterhaft in der Blechtrommel, wie Großdeutschland nach außen im Inneren zur Verzwergung führte.
Was folgte, war ein moralischer Sturm, der vor allem um zwei Themen kreiste: Wir hätten ein Recht gehabt, es früher zu erfahren! Wer bei der SS war, wird für immer ein Nazi bleiben.
Es war, als hätte Grass an einem frühen Punkt seiner Biografie eine rote Fahne gehisst und einen weißen Kreis gezogen, den Landeplatz für die unterschiedlichsten Helikopter mit moralischer Fracht. Wenn es dem Schriftsteller auf Dauer wenig geschadet hat – es lag auf jeden Fall nicht an einem Mangel an moralischem Getöse und strafender Energie von Seiten seiner Sittenrichter.

„Komm! ins Offene, Freund!“

(Dieser Essay wurde für das Elbphilharmonie-Magazin 1/2017 zur Eröffnung des Hauses in Hamburg verfasst)

In dem Hölderlin-Vers steckt eine zentrale Aussage zur Psychologie der Offenheit: Sie ist bezogen auf den Freund, auf ein Gefühl, nicht allein aufzubrechen, sich nicht isoliert der Unsicherheit auszusetzen, sondern begleitet von Wohlwollen. Offenheit und vertrauensvolle Beziehungen gehören zusammen. Nun ist aber Vertrauen, wie Niklas Luhmann sagte, eine riskante Vorleistung. Wenn wir die aktuelle Situation in Europa betrachten, kann einem bange werden um die Zukunft der offenen Grenzen zwischen den Nationalstaaten, auf die wir eine Weile so stolz waren. Ähnliches gilt für die Offenheit für Verfolgte.

Wer sich aus Furcht verschließt, blockiert auch neue Erfahrungen. Wo diese Haltung überhand nimmt und sie nicht mehr ins Offene hinaus können, verkümmern die Künste. Sie brauchen den inneren Raum des Erlebens ebenso wie die Freiheit, sich in unerwartete Richtungen zu entwickeln. Sobald Politiker beginnen, den Künstlern Vorschriften zu machen, verkümmert die Kreativität. Die Ödnisse stalinistischer oder nationalsozialistischer Linientreue sind ein Beleg dafür.

In der Psychologie spricht man selten von Offenheit. Den Psychoanalytiker beschäftigt ihr Gegenteil weit mehr: Die Einengung angesichts von Ängsten, von Depressionen, von Sucht und manchmal auch von überwertigen Ideen. Das sind Seelenzustände, in denen die Betroffenen kaum mehr an etwas anderes denken können als an das Thema, auf das sie fixiert sind.

Das geläufigste Beispiel für Einengung ist die Drogenabhängigkeit. Sie vereinfacht und reduziert das Denken enorm. Alles dreht sich um ein einziges Thema, das wie der Ameisenlöwe auf dem Grunde eines Trichters sitzt und aussaugt, was hineinfällt. Die fünfzehnjährige Magersüchtige interessiert sich nur noch für Kalorien, sie weiß von jedem Lebensmittel, wie viel davon jeder Bissen in ihren dürren Körper bringt und was sie tun muss, um das zu verhindern. Der erste Gedanke des Alkoholikers, der mit zitternden Händen erwacht, der erste Gedanke des Heroinabhängigen sind berechenbar und trivial.

Ähnlich die Eifersucht. Von ihr geplagte Menschen denken in jeder freien Minute daran, was sie tun können, um eine andere Person dazu zu bringen, sie richtig zu lieben. Keine reale Erfahrung, kein vernünftiges Zureden schützt vor dieser aus Neid und Angst gemischten Qual.

Einengung ist das charakteristische Merkmal, das aus einer Alltagsphantasie ein böses Werkzeug schmiedet. Sie spitzt religiöse Vorstellungen zum Fanatismus zu und steigert die Kränkung gemobbter Schüler zum Amoklauf. Seelische Einengung gilt als wichtigste psychologische Voraussetzung für Mord und Selbstmord. Shakespeares Hamlet in die Rolle gelegter Monolog über To be or not to be wäre niemals so berühmt geworden, wenn wir diese Gefahren nicht nachvollziehen könnten:

Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel,


Des Mächtigen Druck, des Stolzen Misshandlungen,

Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,

Den Übermut der Ämter und die Schmach,

Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,

Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte


Mit einer Nadel bloß?

Der Dichter aber weitet die Sicht. Hamlet öffnet sich dem Gedanken, dass das Leben weitergeht, dass seine Mühen geschultert werden können, dass bekannte Übel erträglicher sind als unbekannte. In der Tat sind Selbstmordphantasien sehr häufig, Selbstmordversuche hingegen selten und oft ebenso Hilferuf wie Bedürfnis, quälenden Ängsten vor narzisstischer Kränkung ein Ende zu setzen. Offenheit ist in diesen Fällen lebensrettend, Einengung potenziell tödlich.