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„Komm! ins Offene, Freund!“

Zur Psychologie der Offenheit

Hamlet beschreibt, was wir heute als depressive Einengung definieren würden: Die Schmach, die Unwert schweigendem Verdienst erweist – oh ja, die kennen wir, wer wird schon seinen Leistungen entsprechend gewürdigt, bezahlt, befördert, gewählt? Welcher Autor wird wohlwollend genug besprochen, welcher Wissenschaftler oft genug zitiert, wer wird auf jeden Geburtstag eingeladen, hat genügend Follower und Freunde in den sozialen Medien?

Das spielende Kind ist das genaue Gegenteil des Mannes, der sich darüber beklagt, nicht genug gewürdigt zu werden. Es will tätig sein, nimmt jede Anregung auf, erforscht alles Unbekannte und sucht die schützenden Arme der Mutter erst, wenn diese spielerische Offenheit gefährdet ist, wenn beispielsweise ein Geräusch zu laut ist, eine Wespe sticht, eine Katze kratzt, ein Hund bellt.
Wo Hamlets Ich sich ganz alleine dem Herzweh und den tausend Stößen der Realität ausgeliefert fühlt, erlebt das Kind eine umgekehrte Welt: für Schmerz und Sicherheit ist die Mutter zuständig; ihm bleibt die Neugier.

Offenheit ist uns geschenkt, Enge aufgezwungen

Wir leben auf unserem Weg vom Kind zum Erwachsenen aus einem Zustand größter Offenheit und Vielfalt heraus einem Spätzustand entgegen, in dem wir vieles schon kennen und gelegentlich leise denken, gar laut sagen: Ach ja, das Gute an dieser Sache ist nicht neu, und das Neue nicht gut!

Diese Qualität verbindet uns mit vielen Warmblütern, die wie wir Menschen einer Kindheitsperiode spielerischer Vielfalt und Neugier einen Zustand folgen lassen, in dem vorwiegend das Zweckmäßige geschieht und sonst wenig – vergleichen wir beispielsweise an die junge Katze und den alten Kater.

Den Menschen als Art zeichnet die Neotonie aus: er behält kindliche Qualitäten im Körperbau wie im Charakter. Gerade von großen Künstlern lesen wir, dass sie sich bis ins Greisenalter Kindliches bewahrt haben: Spielfreude und Selbstvergessenheit. Wer sich ihnen hingibt, gerät in eine alterslose Welt. Unvergesslich ist mir der gut achtzigjährige Schauspieler, der von sich erzählt: Ich habe vier künstliche Gelenke und kann mich nicht mehr ohne Schmerzen bewegen – es sei denn, ich stehe auf der Bühne. Da spüre ich nichts und denke nur an meine Rolle und meinen Text.

Die wichtigsten Beweggründe des Kindes sind Neugier und Angst. Neugier ist das Motiv hinter der Offenheit; Angst hat schon von der Wortwurzel her mit Enge zu tun. Dazwischen liegt die Langeweile, in der sich Angst und Neugier sozusagen gegenseitig paralysieren und wir erwarten, bespielt zu werden. Langeweile ist sozusagen eine milde Form der Depression – „wenn doch jemand käme und mich mitnähme!“

Die wachsende Depressionsgefahr für die Menschen in der modernen Konsumgesellschaft wurzelt darin, dass in vielen Fällen die unbefangene, spielerische Neugier des Kindes nicht zugelassen wird, weil sie den Eltern Angst macht. Angesichts der komplexen Lebensbedingungen und hohen Bildungsanforderungen hat sich die Überzeugung ausgebreitet, dass ein normales Kind bereit sein sollte, viele Stunden lang still zu sitzen und aufmerksam für Inhalte zu sein, die ihm nichts sagen, von denen aber die Erwachsenen glauben, sie seien für sein Fortkommen unverzichtbar.

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