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Die Bedeutung der Handarbeit für den Kopf

Neulich sprach ich mit einer 16jährigen, die in einem luxuriösen Haushalt aufwächst, sich mit ihrer Mutter ein Reitpferd teilt und nach einem Schulwechsel (die alte Schule war doof) in dem neuen Gymnasium noch mehr verzweifelt. Sie klagte, ihr sei schrecklich langweilig, seit sich ihre beste Freundin mit einem etwas älteren Mann zusammengetan habe. Sie findet beide blöd, sie findet die Lehrer blöd, sie fühlt sich von unerträglichem Frust umgeben, den sie noch jahrelang aushalten soll.

Auf einer Tagung kam ich 2011 mit einem Nervenarzt ins Gespräch, der die Aufnahmestation in einem niederbayerischen Bezirkskrankenhaus leitet. Er erzählte mir, dass in diesem Jahr die Zahl der bis zum Koma betrunkenen Mädchen die Zahl der Jungens in dem gleichen Zustand übertroffen hat. Zwei bis drei Promille sind keine Seltenheit. Die Ursache? Langeweile, sagte er. Es passiert zu wenig. So gehen die Teenager aus der Schulstunde in den Supermarkt, besorgen sich den billigsten Fusel und geben sich die Kante. Vermutlich beginnen wir erst jetzt zu begreifen, was wir unseren Kindern nehmen, sobald wir ihnen Zauberstäbe in die Hand drücken und ihnen die körperliche Mitarbeit ersparen. Sie beginnen reich beschenkt und beklagen sich anschließend bei Eltern, Lehrern und allen, die es wahrnehmen können, dass es nicht so weitergeht.

Die Eltern finden ihre Kinder undankbar, die Kinder ihre Eltern geizig. Opfer sind sie beide, denn die Eltern haben den Zauberstab nicht zu verantworten, mit dem die Kinder nicht wirklich umgehen können. Wer einen anspruchsvollen Beruf, ein Handwerk, ein Musikinstrument beherrschen will, muss damit fertig werden, dass er als Habenichts beginnt und sich schrittweise seine Kunst erobert. Das Leben wird uns geschenkt, die Welt müssen wir uns erarbeiten.
Die Entwicklung in der Konsumgesellschaft hat die Ansprüche an narzisstische Bestätigung ebenso gesteigert wie die Angst vor ihrem Verlust. Daher wird körperliche Arbeit, in der sich nur langsam und mit Mühe etwas verändert, immer weniger attraktiv, ist aber gleichzeitig die wichtigste Lernmöglichkeit für Geduld und Ausdauer.
Die Arbeitslosen in der Konsumgesellschaft sind nicht „faul“. Ebenso gut könnte man einem Computer, der wegen falscher Eingaben nicht funktioniert, Faulheit vorwerfen. Menschliche Motivation lässt sich nicht mit einem Schalter aus- und anknipsen. Sie ist ein komplexes, sensibles und sehr störanfälliges Geschehen.
Die Bedeutung der Sinnhaftigkeit, die einer Arbeit unterstellt wird, hat Mark Twain beleuchtet. In dem Roman über Tom Sawyer und Huckleberry Finn wird Tom von seiner Tante für einen Lausbubenstreich bestraft. Er muss an einem schönen Sommertag den Gartenzaun streichen.

Andere würden sich zähneknirschend und hastig dieser Aufgabe unterziehen, um danach endlich ihre freie Zeit zu genießen. Tom aber beschließt, aus dem Zwang Freiheit zu machen. Das kann er den Spielkameraden, die ihn auf dem Weg zum Baden höhnisch bemitleiden, so überzeugend vermitteln, dass sie am Ende nicht nur für ihn den Zaun streichen, sondern ihn anbetteln und nach ihren Möglichkeiten dafür belohnen, dass er sie es tun lässt.
Die Fähigkeit, körperliche Arbeit als sinnhaft erleben zu können, wirkt auf den ersten Blick trivial. Aber sie wird in der Konsumgesellschaft eine Gnade, ein Geschenk, ein Ritual, das jenen zur Verfügung steht, die sich von der perfektionistischen Jagd nach dem Besonderen emanzipieren können. Dieses Ritual bindet Ängste, die sonst übermächtig werden, auf gesunde und nützliche Weise. Da dieses Ritual bei den Kindern traditioneller Gesellschaften gut funktioniert, sind diese auch so begehrte Arbeitskräfte. Allerdings werden solche Haltungen sehr viel schneller aufgelöst als aufgebaut.

Diese Begabung zur eintönigen Arbeit wird sicherlich in den meisten Fällen unbewusst durch reale Vorbilder erworben. In traditionellen, agrarischen oder nomadischen Kulturen ist es für die meisten Menschen immer klar, dass diese Form der Auseinandersetzung mit der Umwelt normal, wünschenswert und „gut“ ist.
Diese Situation hat sich in der Industriegesellschaft geändert. Sobald Kraftmaschinen zur Verfügung stehen, droht die Entwertung der menschlichen Kraft (und der Kraft von Zugtieren) angesichts einer Überschätzung der maschinellen Prothese. Das hängt auch mit den kriegerischen Prägungen der Männlichkeit in diesen Kulturen zusammen: es gehört zum Ideal des „harten“ männlichen Arbeiters, sich bis zur Schmerzgrenze anzustrengen.
Wer als Kind diese Härte noch erahnt hat, kann die Verführung verstehen, die von allen Erleichterungen kräftezehrender, gelenkverschleißender Plackerei und Maloche durch motorisierte Geräte ausgeht. Aber damit geht sehr oft auch die elegante Qualität der physischen Arbeit verloren, welche den Körper aufbaut und erhält, nicht verkrümmt und ruiniert.

Kluge Philosophen der Bewegung, wie Moshe Feldenkrais, haben viele Anregungen geliefert, zu entdecken, wie wichtig körperliche Arbeit sein kann. Dazu wäre es notwendig, sie zu spiritualisieren, sie mit meditativen Qualitäten ausrüsten. Wir müssten dahin kommen, dass unser Ziel nicht die fertige Furche ist, die wir mit dem Spaten ziehen, sondern die Eleganz jedes einzelnen Spatenstichs.

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