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Nie mehr allein mit Bäumen

Wenn ein Zeitreisender aus den siebziger Jahren heute hier landen würde, wäre ihm vieles vertraut. Der Englische Garten sieht seit zweihundert Jahren nicht viel anders aus als heute, Autos gab es 1970 weniger, Jogger auch, aber die Mütter schoben ihre Kinderwagen, die Hunde spielten miteinander und die Radler kümmerten sich nicht darum, dass manche Wege nur für Fußgänger waren – leben und leben lassen.

Nur in diesem Punkt würde der Zeitreisende glauben, dass viele Spaziergänger verrückt geworden sind: sie führen Selbstgespräche, manche laut, mache verhalten; einige haben die Hand am Ohr, andere sprechen in die Verdickung eines erst bei näherem Hinsehen erkennbaren, dünnen Schlauchs, den sie um den Hals tragen. Und die meisten jüngeren Menschen, die auf den Parkbänken sitzen, tippen in kleine, flache Kästchen oder wischen immer wieder drüber und betrachten das Ergebnis wie eine unermüdliche, aber auch ewig unzufriedene Putzfrau.

Den Nicht-Zeitreisenden wundert das alles nicht mehr. Wer in der Öffentlichkeit laut redet, ohne dass sein Gesprächspartner sichtbar ist, der hat eben ein Smartphone mit Freisprechanlage und telefoniert. Und wer sitzt und wischt, checkt seine Mails oder Facebook und Twitter. So einfach ist das.

Nicht ganz, möchte ich sagen. Es verschiebt sich eine Beziehung, es entwickelt sich ein Übergewicht, das der Idee des Parks im Allgemeinen, des Englischen Gartens im Besonderen quasi entgegengesetzt ist. Als der Park in die Städte kam, war er als Oase der Ruhe und Naturnähe gedacht.

Die Enzyklopädie der dummen Dinge

dummedingeSie haben unseren Alltag bereichert und erleichtert: Kühlschrank, Dusche, Smartphone – darauf verzichten möchte niemand mehr. Wir nutzen diese Dinge heute völlig selbstverständlich, ohne darauf zu achten, wie sie – im Hintergrund unseres Lebens – Fühlen und Denken der Gesellschaft verändern.

Was ist das eigentlich – Fortschritt? Was macht steter Konsum aus uns? Was kann man weglassen, was macht uns gar dumm? Solche und ähnliche Fragen haben Wolfgang Schmidbauer schon immer beschäftigt. In seiner sehr persönlichen Enzyklopädie spürt er Gegenständen nach, die derart alltäglich sind, dass wir vergessen haben, zu hinterfragen, was sie neben ihrem Funktionieren mit uns machen. Hightechgeräte, die sich nicht mehr reparieren lassen und so unsere handwerklichen Fähigkeiten untergraben, schicke Wochenendhäuschen, die sich als arbeitsintensiver Ballast entpuppen, Toiletten, durch die bestes Trinkwasser rauscht – das sind nur einige Beispiele, die uns zeigen, dass Komfort mehr als nur eine bequeme Seite hat.

Schmidbauer präsentiert einen neuartigen Blick auf die Welt der Dinge. Mal glasklar, mal berührend schreibt er mit nimmermüdem geistigem Vergnügen, das unterhält, überrascht und fesselt. Ein Geschenkbuch, das zum Schmunzeln und Nachdenken anregt! (Verlagstext)

Rezension von Rupert Neudeck

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Die Geheimsprache der Krankheit (eBook)


Die Macht seelischer und sozialer Einflüsse auf körperliche Leiden wird fast immer unterschätzt. Obwohl viele dieser Zusammenhänge seit langem bekannt sind und immer wieder betont wird, dass z.B. mindestens die Hälfte aller Kranken in einer durchschnittlichen Allgemeinpraxis an psychosomatischen Erkrankungen leidet, geht dieses Wissen auch immer wieder verloren, die Patienten erleben (und werden dazu angeleitet) ihre Rückenschmerzen, ihr Rheuma, ihre Atembeschwerden oder ihre Infektanfälligkeit als „rein organisch“ oder sagen abwehrend „ich weiss schon, es ist psychosomatisch“.

In dem vorliegenden Text unterscheide ich zwischen einer Organsprache und einem Organdialekt: Wer Symptome lexikalisch „übersetzen“ will (z.B. Asthma ist „der Schrei nach der Mutter“), kann ihnen nicht gerecht werden, denn das Verständnis muss in jedem einzelnen Fall neu erarbeitet werden.

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Befreiung aus der Ohnmacht

Aggression erregt mehr Aufmerksamkeit als Hilfsbereitschaft. Man muss nur an die Textseiten und Sendeminuten denken, die eine Pflegekraft auf sich zieht, welche einen Schwerkranken vergiftet. Damit verglichen scheint das Interesse für die Krankenschwester minimal, die ihre Patienten aufmerksam betreut. Ähnlich gegensätzlich wirkt die mediale Aufmerksamkeit für die Folgen des Zustroms von Flüchtlingen nach Europa. Einer wird viel diskutiert: die Anschläge auf Unterkünfte und die rassistischen Äußerungen rechter Politiker. Der andere vollzieht sich eher im Verborgenen: die vielfältige Hilfsbereitschaft Freiwilliger, die – an Stunden gemessen – die kriminellen Aktionen aussehen ließe wie eine Pfütze neben dem Meer.

Warum helfen Menschen anderen Menschen? In den Antworten auf diese Frage ist ein Begriff populär geworden, den ich vor rund dreißig Jahren in dem Buch über Die hilflosen Helfer geprägt habe: das Helfersyndrom. Darunter versteht man heute oft eine gewissermaßen fanatische, mit Geltungsbedürfnissen verbundene Motivation, etwas für andere zu tun. Das ist ein Missverständnis. Es geht um eine schwieriger zu begreifende Thematik: um eine unbewusste Komponente in der menschlichen Hilfsbereitschaft. Sie beruht darauf, dass ein Kind unter dem Druck von Gefühlen der Ohnmacht, des Alleingelassenwerdens und hilfloser Abhängigkeit eine mächtige Gestalt entwirft. Diese ersetzt, was ihm fehlt.

Wo die realen Mängel der Mutter überdeutlich sind, findet das Kind eine Lösung, indem es eine ideale Mutter in seiner Phantasie erschafft und sich dann mit diesem Bild identifiziert. Das kann dann dazu führen, das der erwachsene Helfer große Schwierigkeiten hat, selbst Hilfe anzunehmen. Viele Alltagsbeobachtungen und Statistiken bestätigen das. Ärzte sind schwierige Patienten, um nur ein Beispiel zu nennen. Wie wenig sie ihr Wissen auf sich selbst anwenden können, zeigt ihre – verglichen mit anderen Berufen – deutlich geringere durchschnittliche Lebenserwartung ebenso wie die überdurchschnittliche Selbstmordrate von Psychiatern.

Jüngst ist mir eine Kindheitsgeschichte begegnet, welche die unbewusste Komponente der Helfer-Motivation anschaulich macht. Ich erzähle sie mit veränderten Details nach:
„Meine Mutter hat kurdische Vorfahren, ist aber in Teheran als Tochter eines Arztes geboren. Sie hat in England studiert und musste nach dem Sturz des Schahs fliehen. In Deutschland hat sie dann meinen Vater kennen gelernt und mit ihm ein Teppichgeschäft aufgebaut. Ich bin die einzige Tochter – ich denke, dass meine Mutter eigentlich keine Kinder wollte, sie hat mich oft abgegeben, hat immer gearbeitet und später ein Kindermädchen bezahlt. Mein Vater war ein Familienmensch, aber ich denke, dass sie die Bestimmerin in der Familie ist.

Die deutsche Ehe

eheKlappentext:
Mittlerweile sind über ein Viertel aller Ehen in Deutschland kulturell gemischt. Das wirft die Frage auf, ob es einen eigentümlich deutschen Zugang zur Liebe gibt?

Die Antwort auf diese Frage führt den bekannten Münchner Paartherapeuten Wolfgang Schmidbauer in die Familiendynamik der Partner und zu überraschenden Einsichten, wie nationale und kulturelle Eigenarten deutsche Beziehungen beeinflussen. Von individuellen Glückserwartungen geprägt, dabei voller Sehnsucht nach Symbiose, ist jede moderne Ehe ein riskantes Unternehmen. Aber dieses Risiko besitzt in Deutschland eine spezifische Qualität. Es ist über Generationen hinweg mit dem Schicksal einer Nation verwoben, die mehr als alle anderen den Konflikt zwischen höchsten Idealen und den brutalen Folgen ihres Missbrauchs zugleich inszeniert und erduldet hat.

Schmidbauers These: In der deutschen Ehe entfaltet sich eine Dynamik, die ebenso allgemein wie speziell, sehr modern und doch historische Folge sozialer Traditionen ist.

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Über das Schwärmen

fansEs gibt schöne deutsche Wörter, die viel anschaulicher sind als unsere wissenschaftlichen Begriffe und doch aus der Mode kommen. Aber es hat auch seinen eigenen Reiz, herauszufinden, warum das so ist. Schwarm und schwärmen ist ein Begriffspaar, das altertümlich anmutet und doch von zeitloser Eleganz ist. In den Romanen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts schwärmten die Mädchen im Internat für den Schnurrbart des Musiklehrers und die Damen im Theater für die Stimme des Tenors. Ein Mädchen- oder Frauenschwarm zu sein, verlieh dem Mann einen zerbrechlichen Glanz, raubte ihm aber auch etwas an Ernsthaftigkeit.

Nicht, dass nicht auch Frauen umschwärmt waren, manchmal auch umschwirrt, wie im blauen Engel – Männer umschwirren mich, wie Motten das Licht. Aus dem Schwärmen der Insekten und dem Ausschwärmen der Soldaten hat sich die psychologische Bedeutung des Schwärmens erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt. Im Grimm’schen Wörterbuch liest sich das so:

als milderes wort, zur bezeichnung einer überwiegenden phantasie und begeisterung; erst in der litterarischen bewegung seit etwa 1770 ausgebildet, von Campe zuerst verzeichnet: er schwärmet in der religion, liebe, freundschaft; von Schiller dem begriffe nach bestimmt: das sentimentalische genie hingegen ist der gefahr ausgesetzt, über dem bestreben, alle schranken von ihr zu entfernen, die menschliche natur ganz und gar aufzuheben, und sich nicht blosz, was es darf und soll, über jede bestimmte und begrenzte wirklichkeit hinweg zu der absoluten möglichkeit zu erheben oder zu idealisiren, sondern über die möglichkeit selbst noch hinauszugehen oder zu schwärmen.

Freud hat dann folgerichtig für die menschliche Verliebtheit den Begriff der Idealisierung des Liebesobjekts eingeführt. Heute schwärmen junge Menschen nicht mehr für den Star, sie finden ihn cool, toll, geil, super. Aus dem Ausschwärmen der Gedanken und Gefühle hin zu einem Ziel ist eine Qualität des Gegenstandes selbst geworden, aus dem Innen ein Außen, aus der Bewegung Starre.

Jüngst ging ich, stolzer Vater der Drehbuchautorin Lea Schmidbauer, als Premierengast eines Films für Kinder und Jugendliche (Ostwind II) an einer langen Reihe von Kindern und Teenagern vorbei, die alle auf die Hauptdarstellerin warteten, Autogrammkarten fest in kleinen Fäusten. Die Gesichter waren angespannt, energisch, ängstlich, als fürchteten sie, die Materialisation des Geschöpfs zu verpassen, dem ihre Erwartung galt: der schönen Mika, die auf magische Weise mit dem schwarzen Hengst Ostwind kommuniziert. Sie schwärmten nicht für Mika, sie wollten Mika haben, ein Stück von ihr, sie wollten Mika sein, deren Pferdeabenteuer bald die Leinwand füllen würden.

Rituale

Zusammenfassung:
Aus dem Einfluss ödipaler Szenen wird das Modell unbewusster Rituale entwickelt, um die Dynamik von Paaren zu erschließen. In der Paartherapie wird deutlich, dass die Idealisierung eines Partners während der Phase der Verliebtheit solche frühen Einflüsse verarbeitet. Krisen der Partnerschaft lassen sich durch die Arbeit an diesem Geschehen aufklären und bewältigen. Es ist davon auszugehen, dass im Kontext der Identifizierungen während der Verarbeitung der ödipalen Dynamik nicht nur Einzelpersonen und deren spezifische Qualitäten introjiziert werden, sondern auch emotional aufgeladene Interaktionen zwischen den Eltern. Sie prägen das spätere Beziehungserleben in seiner Dynamik von Idealisierung, Entwertung und dem Mittelweg des Rituals.

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Die Justiz schweigt

Warum wir den Grund für das Morden nicht wissen wollen – und wie weit der Weg ist, um der Gefahr zu entkommen

„Es ist schwer, das Unfassbare zu begreifen.“ „Wir werden es wohl nie verstehen.“ Der erste Satz kommt aus einer aktuellen Tageszeitung nach dem rassistischen Massenmord an Kirchgängern in Charleston, Süd-Carolina. Der Täter, ein weißer 21jähriger, erschoss neun Menschen in einer vorwiegend von Schwarzen besuchten Kirche, nachdem er eine Stunde an der Bibelstunde teilgenommen hatte. Der zweite Satz stammt von dem amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Er fiel nach dem Massaker an der Columbine High School. Einige Monate vor Charleston wurde die Redaktion einer Zeitschrift in Paris ausgelöscht; wenige Tage danach erschoss ein 23jähriger Student 38 Strandurlauber in Tunesien. Im friedlichen Dorf Tiefenthal bei Ansbach in Mittelfranken erschießt ein 47jähriger aus dem fahrenden Auto heraus zwei Menschen. „Der Täter ist Sportschütze“, steht in der Zeitung.

Wir wissen durchaus, warum solche Dinge geschehen – wenn wir es nur wissen wollen. Die Massaker finden statt, weil Menschen dazu fähig und die nötigen Werkzeuge billig zu haben sind. Sie werden häufiger, weil sie eine verführerische Lösung für seelische Nöte bieten.

Es sind Ereignisse, angesichts derer sich der Mensch lieber abwenden und sein Haupt verhüllen würde, wie im antiken Theater angesichts großen Frevels. Wer das nicht tun will, muss sich damit abfinden: „Sinnlose“ Massenmorde mit automatischen Waffen gehören zu den großen Gesten des 21. Jahrhunderts. Sie werden zunehmen und uns bedrohen, bis wir ein wirksames Gegenmittel finden.

Die Zahl der Männer wächst, die sich im Morden von inneren Spannungen zu befreien glauben. Sie trotzt den Versuchen, sie einzudämmen.
Die meisten gewissenhaften Selbstbeobachter werden zugeben, dass ihnen Todeswünsche und Mordimpulse nicht gänzlich fremd sind. Kaum einer hat das in einer so schönen Mischung von Idylle und Schauder vorgetragen wie Heinrich Heine:

„Ich habe die friedlichste Gesinnung. Meine Wünsche sind: eine bescheidene Hütte, ein Strohdach, aber ein gutes Bett, gutes Essen, Milch und Butter, sehr frisch, vor dem Fenster Blumen, vor der Tür einige schöne Bäume, und wenn der liebe Gott mich ganz glücklich machen will, läßt er mich die Freude erleben, daß an diesen Bäumen etwa sechs bis sieben meiner Feinde aufgehängt werden. Mit gerührtem Herzen werde ich ihnen vor ihrem Tode alle Unbill verzeihen, die sie mir im Leben zugefügt – ja man muß seinen Feinden verzeihen, aber nicht früher, als bis sie gehenkt werden.“ (H.Heine, Gedanken und Einfälle)

Der Dichter bekennt sich zu seiner Mordlust gegen jene, die ihn gekränkt haben. Aber er nimmt die Tat nicht selbst in die Hand, er wünscht sich, dass ihm jemand die Henkersarbeit abnehmen möge. In der bürgerlichen Schicht hatte man damals noch Personal.

Das Christkind in der Krippe …und die Eltern, Ochs und Esel

Kann es sein, dass Kinder die natürlichen Feinde der Eltern sind? In eben dem Sinn, in dem Papst Bonifatius VIII (er regierte die Kirche 1294 bis 1303) in der Bulle Clericis laicos erklärt hat, dass „die Laien den Klerikern bitter feind sind“. Alles Übertreibungen? Das von der Geburt des Erlösers geprägte „Fest der Liebe“ kann aber doch zum Anlass werden, über die Problematik nachzudenken, die Themen wie die Liebe zum Kind und die Liebe zwischen Kindern und Eltern umgibt.

Die moderne Liebesbeziehung und mit ihr der Mythos der Ehe beruhen auf dem heimlichen Vertrag, sich Wünsche von den Augen abzulesen. Dann kommt das Baby, hoffnungsvoll erwartet als Siegel und Krone dieser Liebe. Aber das Baby liest nicht still von den Augen der Eltern ab, was sich diese wünschen. Es schreit.

Was sich bisher still und erfreulich an Bestätigung, an Erotik zwischen den Eltern wie selbstverständlich webte, zerreißt an diesem Schrei. Wie der Magnetberg im Märchen von Sindbad die Nägel aus den Schiffen, so zieht das Kind alle Anteile aus der Liebe der Partner an sich, die bisher kindliche Erwartungen erwachsener Menschen erfüllten. Der Kummer, der Ärger darüber sind mächtige Störfaktoren. Sie führen dazu, dass entgegen der Sprichwortweisheit von dem Kind, das die Ehe zusammen hält, inzwischen die Geburt eines Kindes der häufigste Anlass für eine frühe Scheidung geworden ist. Eine belastbare Beziehung erträgt die Störung durch das Baby mit knapper Not. Eine wenig belastbare Liebe zerbricht.

Die meisten Paare bewältigen den Stress durch das Kind, vor allem die, welche sich den noch größeren Stress ungewollter Kinderlosigkeit ausmalen können. Wir sollten das aber nicht als gewöhnliche Leistung abtun, sondern respektvoll betrachten, wie sie das geschafft haben. Sie mobilisieren Gegenkräfte. Sie schützen ihre erotische Verbindung, indem sie intensiver über sie sprechen, sich verabreden, einen Bereich schaffen, in dem das Baby nichts zu suchen hat.

Eine stillende Mutter, die ihr Baby dem Sitter anvertraut und sich mit Milchpumpe und Mann in die Honeymoon-Suite einmietet, ist auf einem besseren Weg als ihre Schwester, die den liebeshungrigen Partner mit dem Satz abspeist, sie brauche jetzt einen Vater für das Kind und kein zweites Baby.

Wenn die Eltern zusammenhalten, gelingt etwas wie ein gesundes Wachstum der Familie, die sich jetzt um die Kinder erweitert hat und ihre Energie darauf richtet, dass alt und jung kooperieren. Solange die Eltern in ihrer Erotik ein Band haben, das Lust und Halt gibt, fällt es später auch den Kindern viel leichter, ihre eigenen Wege zu gehen.

Väter und Mütter werden von kleinen Kindern durch strahlende Bewunderung verwöhnt. Aber später müssen sie ertragen, dass sie für den pubertierenden Nachwuchs zwar nach wie vor unentbehrlich sind, aber nicht mehr wie Götter behandelt werden, eher wie Nutzvieh. Insofern ist es prophetisch, wenn sich in bayerischen Krippen nicht allein Maria und Joseph um das Jesuskind kümmern, sondern im Hintergrund auch Ochs und Esel darauf warten, die Last zu tragen.

Die Wermut-Methode

Während der kurzen und schönen Jahre meines Aussteigerlebens in der Toskana fiel einer Bäuerin aus der Nachbarschaft auf, dass meine Frau unsere älteste Tochter noch stillte, obwohl das Mädchen schon laufen konnte. Sie fand das zu anstrengend für die Mutter, bückte sich und riss eine Staude mit gelben Blüten und silbrig schimmernden Blättern aus, welche die Schafe stehen gelassen hatten, die auf den verlassenen Feldern um unser Haus grasten.

Sie nannte die Pflanze Assenzio. Ich schlug im Lexikon nach. Assenzio maggiore hieß mit lateinischem Namen Artemisia absinthium, zu deutsch Wermut. „Damit reiben wir die Brust der Mutter ein, wenn sie nicht mehr stillen will. Nach ein paar Tagen mag das Baby die Brust nicht mehr und trinkt lieber aus der Tasse.“ Ich zerrieb ein Blatt des Krautes zwischen den Fingern und lutschte am Daumen. Es schmeckte sehr, sehr bitter, und es dauerte einige Zeit, bis sich der Geschmack wieder verlor. Die Schafe hatten diese Stauden aus gutem Grund stehen gelassen und nur den Klee gefressen, der um sie herum wuchs.

Wir waren uns einig, dass wir unserem Kind diese Methode nicht zumuten wollten. Ich fand die Bäuerin rückständig, tückisch und ein wenig grausam. Die Szene spielt im Jahr 1968; der Mythos dieser Zeit war, Probleme auszudiskutieren und – was die Pädagogik angeht – die kindlichen Bedürfnisse durch Einsicht zu regulieren und ernst zu nehmen. Beides schien mir in dem Rat der Nachbarin nicht präsent. Ich wusste es besser und sah mit leisem Dünkel nicht mehr als eine ethnologische Kuriosität, einen Brauch roher Bergbewohner.

In den Jahren praktischer Arbeit als Therapeut ist mir dieser Dünkel abhanden gekommen, ohne dass ich die Überzeugung gewann, die Wermut-Methode sei gut. Es wirkt auf den Beobachter doch auch rücksichtslos, ja grausam, wenn er beobachtet, wie Pavianmütter ihre Säuglinge zärtlich stillen, aber die größeren Kinder, die schon laufen, klettern, sich selbst versorgen können, bedrohen und wegschubsen, sobald sich diese der vertrauten Quelle von Nahrung und Wärme nähern.

Aber ist der Verzicht auf diese Rücksichtslosigkeit durchweg besser? Wäre sie nicht manchmal das kleinere Übel, wenn Einsicht durch grenzenloses Gewähren erwartet wird wie ein ersehnter Gast, von dem man erst glaubt, er komme verspätet, am Ende aber fürchtet, ganz vergeblich gewartet zu haben?