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Auf dem Weg in eine defensive Psychotherapie

Nach den Ärzten droht auch den Psychotherapeuten eine Überregulierung ihrer Arbeit

Die „Aufklärung“ vor der Therapie

Am Anfang der therapeutischen Arbeit steht ein depressiver, verängstigter Mensch, der Entlastung in einem Gespräch sucht. In den klassischen Empfehlungen Freuds über die Einleitung einer Behandlung wird dem Rechnung getragen. Die Zusammenarbeit beginnt „auf Probe“. Im Verlauf der Sitzungen wird sich herausstellen, welche Form der Hilfe der Kranke braucht, ob sein Anliegen realistisch ist, ob er für eine längere Behandlung motiviert ist und von ihr profitieren kann oder bereits eine Klärung der aktuellen Krise ausreicht, um ihn entlastet und besser orientiert zu entlassen.

Freud zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz aus dem Theaterstück Der Zerrissene von Johann Nestroy: im Verlauf der Begebenheiten wird dir das alles klarwerden.
Wenn sich der Therapeut an die Empfehlungen hält, die heute von den Kammern ausgesprochen werden, dann darf das so einfühlend nicht mehr ablaufen, im Gegenteil. Vor dem Beginn der Behandlung steht die defensive Pflicht. Der Patient muss aufgeklärt werden, prinzipiell auch über das, was sich erst herausstellen wird. In der 2015 veröffentlichten und vom dortigen Sozialministerium abgesegneten Berufsordnung der Psychotherapeutenkammer Hessen (die sich kaum von den entsprechenden Vorschriften anderer Kammern unterscheidet) werden genannt: Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Heilungschancen im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei dieser Aufklärung ist auch auf Alternativen zu der Maßnahme hinzuweisen.
Therapeuten, die sich lieber auf die Symptome eines leidenden Menschen konzentrieren, werden versucht sein, ein Merkblatt auszuhändigen. Wie es der Bankberater auch tut, müssen sie dann dem Patienten ein Duplikat aushändigen, damit er weiß, was er unterschrieben hat. Die ganze Prozedur ist unsinnig und absurd. Um ihn gründlich aufzuklären, muss der Therapeut den Patienten gut kennen. Wie soll er ihn aber kennenlernen, wenn er ohne diese vorgeschriebene Aufklärung gar nicht anfangen darf, zu arbeiten?

Wer solche Vorschriften erlässt, legt ein mechanisches Verständnis von exakter Diagnose und planbarer Therapie zugrunde. Aber jedem Therapeuten ist klar und alle Studien haben es bisher bestätigt, dass die persönliche Beziehung zwischen Patient und Therapeut das wichtigste Vehikel der Intervention ist. Diese braucht Zeit und Raum zu ihrer Entwicklung; eine schematische Aufklärung hält diesen Prozess auf, stört ihn, ohne einen plausiblen Beitrag zum Ziel des Ganzen zu leisten. Es ist eine leere, ängstliche Geste, deren einzige Aufgabe der fiktive Schutz vor Schadenersatzforderungen ist.

Die Risiken einer Psychotherapie sind durchaus eindrucksvoll, wenn wir – wie in den Beipackzetteln – alle erdenklichen Gefahren nennen müssen. Es kann sein, dass sich das Befinden verschlechtert, dass Konflikte mit Ehepartnern oder Eltern auftreten, dass Patientinnen und Patienten sich in Therapeutinnen oder Therapeuten verlieben. Es gibt eine Reihe lizensierter und viel mehr nicht offiziell anerkannte Therapiemethoden – soll der Therapeut über alle aufklären, weil er doch verpflichtet ist, über alternative Behandlungswege zu informieren?
An dieser Stelle meint man den Amtsschimmel wiehern zu hören. In der Medizin gibt es die konservative und die operative Behandlung. Der Orthopäde sollte den Patienten aufklären, ob er eine künstliche Hüfte braucht oder Krankengymnastik die Schmerzen bessern wird. Vergleichbares in der Psychotherapie zu finden dürfte recht schwierig sein.

Defensives Vorgehen im Gesundheitswesen schafft mehr Probleme als es jemals lösen kann. In dem Bestreben, den verantwortungslosen Helfern das Handwerk zu legen, wird in allen Beteiligten ein Bild aufgebaut, das sie zu Misstrauen und Gefahrenabwehr zwingt. Wer aufgewühlt und verängstigt Hilfe sucht, erlebt heute sehr häufig, dass der Arzt ihn umfassend aufklärt, ihn informiert, dass alle Maßnahmen ihre Komplikationen haben und er – der Patient –gewiss selbst am besten wisse, was gut für ihn sei. Die Entscheidung liege selbstverständlich ganz bei ihm. Das ist menschlich ebenso armselig wie politisch korrekt; Vertrauen sieht anders aus. Wie weit sind wir gekommen, wenn nur der Unfallchirurg am ohnmächtigen Patienten bedenkenlos sein medizinisches Können verwirklichen kann? Muss ich als Kranker erst das Bewusstsein verlieren, damit der Arzt mich sofort behandelt und das beste tut, was er tun kann?
Die Aufklärung des Patienten ist kein lösbares Problem, das die Helfer den Juristen überlassen sollten, die auf maximale Gefahrenabwehr hin arbeiten und von einem rationalen Rechtssubjekt ausgehen. Sie ist ein echtes Dilemma, das nur durch Empathie für den Einzelfall abgemildert werden kann. Angesichts dieser Problematik wird der aufrichtige Arzt oder Therapeut immer unsicher bleiben, welche Richtung er einschlagen soll, wie er negative Suggestionen vermeiden kann, ohne falsche Hoffnung zu wecken, ob er durch seine Äußerungen den Kranken aufklärt oder ihn verunsichert, ob er eine fundierte Entscheidung fördert oder einem leidenden Menschen Angst macht und so dessen Schmerzen steigert.

Eindeutig ist nur, dass die Ärzte und nach ihnen vielleicht auch die Therapeuten auf dem Weg sind, dieses Dilemma für juristisch längst gelöst zu halten und sich vor ihm zurück zu ziehen. In einer Studie von David Studdert et al. von der Harvard School of Public Health gaben 93 Prozent der befragten 824 amerikanischen Ärzte zu, dass ihr Verhalten gegenüber den Patienten davon beeinflusst sei, Haftungsklagen zu vermeiden. Sie überwiesen Patienten aufgrund dieser Furcht zu zusätzlichen Untersuchungen, vor allem Röntgenaufnahmen, die sie für überflüssig hielten. Und wo sie Komplikationen dieser Art befürchteten, schickten sie den Patienten lieber weiter – Praxis überfüllt, sorry.
Auch die jetzt gegenüber den Psychotherapeuten erdachten Forderungen laufen auf möglichst viel Diagnostik und damit auf ein Hinauszögern des Behandlungsbeginns hin. Wenn die Psychotherapeuten den Auftrag ernst nehmen, dass ein Bemühen um die tragfähige Beziehung zu ihren Patienten das A und O des Erfolgs ihrer Behandlungen ist, dann sollten sie sich auch klar machen, dass solche Beziehungen von Vertrauen leben. Vertrauen aber ist, wie Nikolaus Luhmann gesagt hat, eine riskante Vorleistung.

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