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Freunde bleiben, Feinde werden?

Seelenzustände nach Trennung und Scheidung

Oft haben Paare sich lange mit Trennung bedroht und doch nicht getrennt. Ich kannte einmal Eheleute, die zwanzig Jahre keinen gemeinsamen Urlaub planen konnten, weil sie nie sicher waren, ob sie in den Monaten bis zu den Sommerferien sich nicht doch noch trennen würden. Wenn sich ein solches Paar endlich tatsächlich trennt, wird deutlich, wie groß die Differenz zwischen Scheidungsphantasie und Scheidung ist: Die erste erlaubt, imaginär das Schlechte am Partner loszuwerden und das Gute zu behalten; die zweite führt dazu, dass Gutes wie Schlechtes aus dem eigenen Leben verschwinden.

Der Satz Lass uns Freunde bleiben fällt nicht selten, wenn ein Paar auseinander geht und einer von beiden die Macht dieses Hass-Gespenstes in sich erlebt.
Sicher ist es gut und sinnvoll, mit jeder langjährigen, intensiven Bindung im Leben so umzugehen, wie man es mit wertvollen Gegenständen tut. Man sollte sie schonen, pflegen, erhalten. Aber aus diesem guten Vorsatz wachsen auch bedenkliche Spannungen.
Jüngst sprach ich mit einem Mann, der nach einer solchen „freundschaftlichen“ Trennung an einer Depression erkrankt war. Er lebte gemäß den Wünschen seiner Frau, von der sich vor einem Jahr getrennt hatte, nach wie vor in dem gemeinsamen Haus. Er fühlte sich nicht wohl, sah sich aber nicht in der Lage, mir genauer zu erklären, woran das lag. Allmählich stellte sich heraus, dass die von seiner Partnerin verhängte und von ihm kritiklos übernommene Freundschaft weder seinen noch ihren Gefühlen entsprach.

Er fühlte sich von Schönfärberei und Schönrednerei erstickt. Er sollte vor den Kindern über seine Unzufriedenheit mit der Ehe schweigen, erfuhr aber irgendwann doch, wie seine Partnerin sich vor den Kindern über ihn beklagt, ihn als den Schuldigen der bevorstehenden Trennung dingfest gemacht hatte. Zur Rede gestellt, leugnete sie, sie würde nie etwas tun, was dem Geist der verabredeten Freundschaft widerspreche.
Die Freundschaft war hier eine Abwehr-Illusion geworden, durch die sich die Partner vor einer Auseinandersetzung schützten. Die Verabredung führte dazu, dass die gegenseitigen Aggressionen nicht bewusst erlebte und vernünftig geregelt werden konnten, sondern verleugnet und auf Umwegen erledigt werden mussten.

Die Frau wollte nie schlecht über ihren Mann reden und tat es doch immer wieder, wenn eine Freundin sie teilnahmsvoll fragte. Der Mann richtete seine Wut gegen sich selbst. Er wurde depressiv, weil er anders die Kränkungen nicht verarbeiten konnte.
Freunde sucht man sich aus und ist gern mit ihnen zusammen. Scheidungspartner sind eine Belastung für das Selbstgefühl. Solche Belastungen sind kränkend. Menschen verleugnen gerne Kränkungen, weil sie einem Selbstbild widersprechen, das sie gerne unantastbar hätten. Wenn es Probleme gegeben hat, an mir liegen sie nicht!

Mit solchen Situationen kann man kräfteschonend, höflich und rücksichtsvoll umgehen, sobald klar ist, dass es um Diplomatie geht, nicht um Freundschaft. Freundschaft ist wieder möglich, wenn das Trümmerfeld aufgeräumt ist und sich keiner mehr einen Vorteil davon verspricht, dem anderen die Schuld an der Misere zuzuschieben. Vorher kann sie zu einer gefährlichen Illusion werden, welche den Schatten der Liebe dunkler und bedrohlicher macht, indem sie ihn verleugnet.

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