Vortrag
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Kleists Narzissmus

Die Einsicht in das zwangsläufige Scheitern seiner Sehnsucht nach Nähe, nach einer Familie, nach dem langen Atem für ein grosses Werk liess  Kleists manische Abwehr seiner strukturellen Defizite immer wieder zusammenbrechen. Die Begleiterin in den Tod verspricht, seine innere Spannungen zu lösen, wie es die einfühlende Mutter getan hätte, auf die Kleist als kleines Kind verzichten musste.
Gleichzeitig wird sie in diesem  gemeinsamen Todesweg symbolisch bestraft. Kleist rächt sich an der Mutter-Stellvertreterin dafür, dass er sie so dringend benötigt. Sein früher Tod erschüttert uns angesichts seiner hohen Begabung nicht weniger als die makabre Inszenierung der Todeshochzeit.
Aber wir sollten umgekehrt nicht übersehen, wie lange Kleist die Kräfte kränkender Scham und unerträglicher Demütigung in Schach halten konnte. Immer wieder gelang es ihm, sein Scheitern an dem, was er als erfülltes Leben erträumte, künstlerisch zu bewältigen.
Es war ein tragischer Zufall, dass Kleist auf Henriette Vogel traf. Er hatte zuvor neben einigen anderen, ihm besonders nahestehenden Personen seine Cousine Marie von Kleist des öfteren gefragt, ob sie mit ihm sterben wolle. Als sein ihm seit der Kadettenanstalt vertrauter Freund Fouqué das im Sommer des Jahres 1811 gemachte Angebot ablehnte, mit ihm gemeinsam die Welt zu verlassen, zog sich der Dichter gekränkt von ihm zurück.
Ein anderen Menschen mitgeteilter Suizidwunsch ist immer ambivalent. Er hat etwas vom Schreien des Neugeborenen: Wenn keine Hilfe kommt, muss ich sterben. Ebenso verbreitet ist der Wunsch, auf diesem letzten Weg einen verlässlichen Begleiter zu haben.
In der Schweiz gibt es seit Jahrzehnten einen Verein mit dem Namen Exit, dessen Mitglieder sich für einen Jahresbeitrag von 35 Franken im Falle eines Suizidwunsches gegenseitig begleiten und unterstützen. Ich habe einmal auf einer Tagung die Arbeit von Exit kennengelernt und erfahren, dass zwei Drittel der Personen, die den Tod wünschen und zusammen mit ihrem  ausgewählten Begleiter das tödliche Gift erworben haben, dieses dann doch nicht trinken. Sie können, der Möglichkeit zur letzten Selbst-Befreiung sicher, auf diese verzichten und trotz ihrer Ängste und Schmerzen bis zur ihrem natürlichen Tod weiterleben.

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