Was bewegt einen hochbegabten, selbstkritischen, von tiefen Wünschen nach sittlichem Verhalten erfüllten Menschen, geliebten Angehörigen und Freunden einen gemeinsamen Tod vorzuschlagen? Wir verstehen dieses Phantasma vom begleiteten Suzid besser, wenn wir uns die Sehnsucht nach dem Selbstobjekt vergegenwärtigen, die in Kleist immer mächtige wurde, je weniger er in seinen Liebesbeziehungen Halt finden konnte – weder an Frauen noch an Männern. Der Tod und die Verschmelzung mit dem Selbstobjekt widersprechen sich im Unbewussten nicht, das ja den Tod nicht als Ende konzipieren kann, sondern nur als Ruhezustand, als sicheren Schutz vor den Schmerzen, die das Leben den Frühgestörten in so viel höherem Mass zufügt als jenen Menschen, die stabile Beziehungen aufbauen und aufrechterhalten können.
Die Angst, alleine in den Tod zu gehen, hatte bei Kleist zunächst eine lebenserhaltende Macht. Solange die Freundinnen und Freunde, die er als Begleiter anfragte, von seinem Wunsch entsetzt waren und diesen bekämpften, war auch Kleist sicher. Er war todesmutig, aber die Feiglinge um ihn machten nicht mit!
Heute nennen wir Zustände tiefer Bedrückung, seelischer Hemmung und Verzweiflung am Leben bis hin zum dem Wunsch nach dem Ende eines nur noch quälenden Lebens Depressionen. Die Aggression spielt in ihnen eine wichtige Rolle: der Depressive hat nicht gelernt, sie spielerisch zu üben und gekonnt mit ihr umzugehen. Er sehnt sich nach Harmonie, kann seine Kränkbarkeit und die mit ihr verknüpfte Wut nicht annehmen. Er bekämpft seine „schlechten“ Gefühle, sucht sie zu unterdrücken und erschöpft sich in diesem Abwehrprozess.
In Kleists Sehnsucht, begleitet in den Tod zu gehen, ist auch etwas Künstlerisches. Er will in der Situation, in der alle Beziehungen enden und der Mensch ganz allein ist, die Symbiose erhalten, und sei es nur fiktiv. Wie der Künstler in seinem Werk ein Übergangsobjekt gewinnt, das materieller ist als die Mutter, aber auch beseelter als die Materie, so ist die Todesgefährtin für Kleist eine Begleiterin im Übergang von der einen in die andere Welt, ein Zwilling. Sie ist sein Geschöpf und er das ihre; er wird nie von ihr enttäuscht sein und sie nie von ihm, weil der Höhenflug der manischen Idealisierung durch keinen Absturz mehr beeinträchtigt werden kann. Kleist hatte sich bemüht, in seinem rastlosen Schaffen den Hintereingang ins Paradies zu finden, wie es einer der Protagonisten im „Marionettentheater“ sagt. Jetzt hat er ihn entdeckt.
Veröffentlicht am 24. November 2008
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