Vortrag
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Kleists Narzissmus

Henriette Vogel war 31 Jahre, Kleist soeben  34 Jahre alt geworden. Die beiden wurden kurz darauf von dem durch den letzten Brief bestellten Ehemann Henriettes und dessen Freund Ernst Friederich Peguilhen gefunden und ihrem Verlangen gemäß schon am Abend des 22.11.1811 nebeneinander, an der selben Stelle, beerdigt.
Wenige Tage nach Kleists Tod kündigte Peguilhen per Zeitungsannonce eine Schrift zur Klärung der Todesumstände an, in der er die edlen Absichten der beiden Toten zu vertreten versprach, freilich auch schon Zweifel daran äusserte, ob das möglich sei.
Diese Schrift ist nie erschienen. Der preussische König verbot die Veröffentlichung. Vielleicht fürchtete er, kaum zu Unrecht, Ansteckungen durch den spektakulären Suizid, wie sie schon nach Goethes Buch über „Die Leiden des jungen Werther“ aufgetreten waren.
Wenn wir uns die inneren Kräfte einer narzisstischen Störung vergegenwärtigen,  wird vieles in der Biographie und in den Dichtungen Kleists verständlicher. Er schuf seine Werke in der Art von idealisierten Übergangsobjekten, mit denen verschmolzen er für eine Weile zur Ruhe kam; in sie floss seine ganze Begabung, hier entfaltete seine gestalterische Leidenschaft eine Schöpferkraft, welche angesichts der spröden Realität sowohl geliebter, aber begrenzter und eigenwilliger Menschen wie auch angesichts der unbezwinglichen Mediokrität aller menschlichen Einrichtungen scheitern musste.
Seine Lebensgeschichte lehrt, dass die Frage, ob eine seelische Störung die menschliche Schöpferkraft stimuliert oder lähmt, falsch gestellt ist. Sie tut beides; im Fall von Kleist, weil sie einen Raubbau an allen seelischen Reserven in Szene setzt, einerseits zu genialen Leistungen reizt, anderseits zu einer frühen Erschöpfung der Abwehrkräfte führt und daher die Basis weiterer Kreativität zerstört. Ich sage damit nichts, was nicht längst bekannt ist; Thomas Mann hat in „Schwere Stunde“ Ähnliches über Schiller gesagt.
Das Werk eines Künstlers erschöpft diesen umso mehr, je weniger Erfahrungen mit einem genügend guten Objekt verinnerlicht wurden, denn dann können die unweigerlichen Schaffenskrisen nicht abgepuffert werden, sondern wecken Impulse zur Selbstzerstörung. Da aber das Werk die seelische Störung ausgleicht, ist es von ihr in seinen formalen Qualitäten nicht berührt und kann sie in seinen Inhalten sogar überwinden. Aus eben diesem Grund haben, seit es sie gibt, Kleists Texte Menschen in ihren narzisstischen Krisen getröstet und zum Teil auch erleuchtet. Sie haben ihnen geholfen, Hintereingänge zum Paradies zu entdecken, was umso bewundernswerter ist, als wir ahnen, dass der Autor selbst keinen zu finden vermochte.

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