Aggression erregt mehr Aufmerksamkeit als Hilfsbereitschaft. Man muss nur an die Textseiten und Sendeminuten denken, die eine Pflegekraft auf sich zieht, welche einen Schwerkranken vergiftet. Damit verglichen scheint das Interesse für die Krankenschwester minimal, die ihre Patienten aufmerksam betreut. Ähnlich gegensätzlich wirkt die mediale Aufmerksamkeit für die Folgen des Zustroms von Flüchtlingen nach Europa. Einer wird viel diskutiert: die Anschläge auf Unterkünfte und die rassistischen Äußerungen rechter Politiker. Der andere vollzieht sich eher im Verborgenen: die vielfältige Hilfsbereitschaft Freiwilliger, die – an Stunden gemessen – die kriminellen Aktionen aussehen ließe wie eine Pfütze neben dem Meer.
Warum helfen Menschen anderen Menschen? In den Antworten auf diese Frage ist ein Begriff populär geworden, den ich vor rund dreißig Jahren in dem Buch über Die hilflosen Helfer geprägt habe: das Helfersyndrom. Darunter versteht man heute oft eine gewissermaßen fanatische, mit Geltungsbedürfnissen verbundene Motivation, etwas für andere zu tun. Das ist ein Missverständnis. Es geht um eine schwieriger zu begreifende Thematik: um eine unbewusste Komponente in der menschlichen Hilfsbereitschaft. Sie beruht darauf, dass ein Kind unter dem Druck von Gefühlen der Ohnmacht, des Alleingelassenwerdens und hilfloser Abhängigkeit eine mächtige Gestalt entwirft. Diese ersetzt, was ihm fehlt.
Wo die realen Mängel der Mutter überdeutlich sind, findet das Kind eine Lösung, indem es eine ideale Mutter in seiner Phantasie erschafft und sich dann mit diesem Bild identifiziert. Das kann dann dazu führen, das der erwachsene Helfer große Schwierigkeiten hat, selbst Hilfe anzunehmen. Viele Alltagsbeobachtungen und Statistiken bestätigen das. Ärzte sind schwierige Patienten, um nur ein Beispiel zu nennen. Wie wenig sie ihr Wissen auf sich selbst anwenden können, zeigt ihre – verglichen mit anderen Berufen – deutlich geringere durchschnittliche Lebenserwartung ebenso wie die überdurchschnittliche Selbstmordrate von Psychiatern.
Jüngst ist mir eine Kindheitsgeschichte begegnet, welche die unbewusste Komponente der Helfer-Motivation anschaulich macht. Ich erzähle sie mit veränderten Details nach:
„Meine Mutter hat kurdische Vorfahren, ist aber in Teheran als Tochter eines Arztes geboren. Sie hat in England studiert und musste nach dem Sturz des Schahs fliehen. In Deutschland hat sie dann meinen Vater kennen gelernt und mit ihm ein Teppichgeschäft aufgebaut. Ich bin die einzige Tochter – ich denke, dass meine Mutter eigentlich keine Kinder wollte, sie hat mich oft abgegeben, hat immer gearbeitet und später ein Kindermädchen bezahlt. Mein Vater war ein Familienmensch, aber ich denke, dass sie die Bestimmerin in der Familie ist.
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