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Die Wermut-Methode

Während der kurzen und schönen Jahre meines Aussteigerlebens in der Toskana fiel einer Bäuerin aus der Nachbarschaft auf, dass meine Frau unsere älteste Tochter noch stillte, obwohl das Mädchen schon laufen konnte. Sie fand das zu anstrengend für die Mutter, bückte sich und riss eine Staude mit gelben Blüten und silbrig schimmernden Blättern aus, welche die Schafe stehen gelassen hatten, die auf den verlassenen Feldern um unser Haus grasten.

Sie nannte die Pflanze Assenzio. Ich schlug im Lexikon nach. Assenzio maggiore hieß mit lateinischem Namen Artemisia absinthium, zu deutsch Wermut. „Damit reiben wir die Brust der Mutter ein, wenn sie nicht mehr stillen will. Nach ein paar Tagen mag das Baby die Brust nicht mehr und trinkt lieber aus der Tasse.“ Ich zerrieb ein Blatt des Krautes zwischen den Fingern und lutschte am Daumen. Es schmeckte sehr, sehr bitter, und es dauerte einige Zeit, bis sich der Geschmack wieder verlor. Die Schafe hatten diese Stauden aus gutem Grund stehen gelassen und nur den Klee gefressen, der um sie herum wuchs.

Wir waren uns einig, dass wir unserem Kind diese Methode nicht zumuten wollten. Ich fand die Bäuerin rückständig, tückisch und ein wenig grausam. Die Szene spielt im Jahr 1968; der Mythos dieser Zeit war, Probleme auszudiskutieren und – was die Pädagogik angeht – die kindlichen Bedürfnisse durch Einsicht zu regulieren und ernst zu nehmen. Beides schien mir in dem Rat der Nachbarin nicht präsent. Ich wusste es besser und sah mit leisem Dünkel nicht mehr als eine ethnologische Kuriosität, einen Brauch roher Bergbewohner.

In den Jahren praktischer Arbeit als Therapeut ist mir dieser Dünkel abhanden gekommen, ohne dass ich die Überzeugung gewann, die Wermut-Methode sei gut. Es wirkt auf den Beobachter doch auch rücksichtslos, ja grausam, wenn er beobachtet, wie Pavianmütter ihre Säuglinge zärtlich stillen, aber die größeren Kinder, die schon laufen, klettern, sich selbst versorgen können, bedrohen und wegschubsen, sobald sich diese der vertrauten Quelle von Nahrung und Wärme nähern.

Aber ist der Verzicht auf diese Rücksichtslosigkeit durchweg besser? Wäre sie nicht manchmal das kleinere Übel, wenn Einsicht durch grenzenloses Gewähren erwartet wird wie ein ersehnter Gast, von dem man erst glaubt, er komme verspätet, am Ende aber fürchtet, ganz vergeblich gewartet zu haben?

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